Das materielle Strafrecht unterscheidet im
Bereich der sogenannten Konkurrenzen, also des Zusammentreffens mehrerer
Tathandlungen oder Gesetzesverletzungen, zwischen Idealkonkurrenz
(Tateinheit,
§ 52 StGB) und Realkonkurrenz (Tatmehrheit,
§ 53 StGB).
Diese Unterscheidung baut auf dem Begriff der "Handlung" auf. Hingegen
sind dem Strafprozessrecht die Begriffe "Tateinheit" und "Tatmehrheit"
fremd; es verwendet vielmehr den eigenständigen prozessualen Begriff der
"Tat", nach der sich vor allem der "Gegenstand der Urteilsfindung" ( §
264 Abs. 1 StPO) und - damit verbunden - der Umfang der Rechtskraft
richten. Auf diesen Begriff greift
Art. 103 Abs. 3 GG zurück. Er
versteht darunter - in Übereinstimmung mit dem Strafprozessrecht - den
"geschichtlichen Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss
hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer
einen Straftatbestand verwirklicht haben soll" ( BVerfGE 23, 191 [202]).
Der Begriff der "Tat" ist mithin weiter als derjenige der "Handlung".
Mehrere Tatbestandsverwirklichungen können auch dann "eine Tat" im Sinne
des
§ 264 StPO ( Art. 103 Abs. 3 GG) bilden, wenn sie zueinander im
Verhältnis der Tatmehrheit stehen. Andererseits stellt eine einheitliche
Handlung stets auch eine einheitliche prozessuale Tat dar. Das ändert
indessen nichts an der Selbständigkeit des prozessualen Tatbegriffs im
Verhältnis zum materiellen Recht.
(1)
<RN 4> |
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Eine der
schwierigsten Abgrenzungsprobleme entstammt aus
Art. 103 Abs. 3 GG: Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund
der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
Das Problem ist der Begriff "Tat", den das materielle Strafrecht
(StGB) und das Verfahrensrecht (StPO) unterschiedlich verstehen.
§
264 Abs. 1 StPO folgt dem verfassungsrechtlichen Tatbegriff, der
einen geschlossenen geschichtlichen Vorgang meint, der mehrere
Handlungen umfassen kann, die für sich eine Strafbarkeit begründen
können. Darauf hat das BVerfG bereits 1977 hingewiesen
(1).
Das materielle Strafrecht betrachtet die Tat hingegen als Handlung
und unterscheidet deshalb zwischen Tateinheit (
§ 52 StGB) und Tatmehrheit (
§ 53 StGB).
Der Unterschied zwischen beiden Tatbegriffen ist dann kein Problem,
wenn es um die Beurteilung von Handlungen mit einem engen zeitlichen und
räumlichen Zusammenhang geht. Ein gutes Beispiel dafür ist der
betrunkene Autofahrer, der deshalb einen Unfall baut
(Straßenverkehrsgefährdung,
§
315c StGB), gleich darauf flüchtet und einen weiteren Unfall
verursacht (Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit Unfallflucht,
§§
315c,
142
StGB) und erneut flüchtet, ohne einen weiteren Unfall anzurichten,
bis er von der Polizei angehalten wird (Trunkenheit im Straßenverkehr in
Tateinheit mit Unfallflucht,
§§
316,
142
StGB). Materiell sind das drei Straftaten und prozessual eine Tat,
die in einem engen zeitlich-räumlichen Zusammenhang steht.
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Das
Verfassungsrecht verlangt, dass der gesamte Handlungsablauf nur zu einer
Bestrafung führen darf. Benennt das Urteil nur zwei der drei materiell
strafbaren Handlungen, dann darf wegen der dritten Handlung keine neue
Bestrafung erfolgen. Dem Täter soll zugute kommen, dass er nicht
wiederholt wegen derselben Sache vor dem Richter erscheinen muss. Dann
hat er eben Glück gehabt.
Was ist
aber, wenn der betrunkene Autofahrer noch während der Polizeikontrolle
anfängt zu randalieren (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte,
§
113 StGB), die Polizisten beleidigt (
§ 183 StGB) oder sogar schlägt (
§ 223 StGB)? Ist das noch dieselbe prozessuale Tat? Oder handelt es
sich um verschiedene Taten, die zwar einen räumlich-zeitlichen
Zusammenhang haben, aber wegen des unterschiedlichen Unrechtsgehalts
verschiedene Taten im prozessualen Sinne sind?
Insoweit wird von verschiedenen Rechtsgütern gesprochen. Die
Beleidigung richtet sich gegen die persönliche Ehre und die schlichte
Trunkenheitsfahrt gefährdet die Öffentlichkeit. Bei der Frage, ob es
sich um eine einheitliche prozessuale Tat handelt, muss man aber
betrachten, wie der räumliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den
Handlungen ist. Um eine prozessuale Tat handelt es sich dann, wenn alle
strafbaren Handlungen ohne erkennbare Unterbrechungen ineinander
übergehen.
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Vor allem würde die getrennte Würdigung und
Aburteilung der dem Beschwerdeführer jetzt zur Last gelegten Tat - nicht
zuletzt im Hinblick auf deren die Beteiligung an der kriminellen
Vereinigung erheblich übersteigendes strafrechtliches Gewicht - nicht
als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges
empfunden werden. Dass der Anschlag auf das US-Hauptquartier in
Verfolgung der Ziele der kriminellen Vereinigung "Rote Armee Fraktion"
verübt wurde, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang.
(1) <RN 8> |
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Das BVerfG
löst das Problem damit, dass keine "unnatürliche Aufspaltung" entstehen
darf. Die Beleidigung und der Widerstand bei
der Kontrolle des betrunkenen Autofahrers muss danach als Teil seiner
Trunkenheitsdelikte gesehen werden, so dass sie nur gemeinsam als eine
prozessuale Tat verfolgt werden können.
Anders
sieht es hingegen aus, wenn der betrunkene Autofahrer nach einer
gewissen Ausnüchterung im Polizeigewahrsam dem Haftrichter vorgeführt
wird und dabei gewalttätig und beleidigend wird. Die zwischenzeitlich
vergangene Zeit bewirkt einen Schnitt (Zäsur). Die Alkoholvergiftung des
Betroffenen mag noch immer enthemmend wirken, aber er hat genug Zeit
gehabt, auch gedanklich tief durchzuatmen und sich zu fassen. Es handelt
sich also um zwei verschiedene prozessuale Taten.
Auch das
materielle Strafrecht kennt zeitlich gestreckte Handlungen und
Dauerdelikte. Dabei kann es sich um die ständige Ausbeutung eines
Menschen handeln (
§§ 232,
233 StGB), um den strafbaren Besitz einer Waffe (
§ 52 WaffG) oder das mehrjährige Verschweigen steuerpflichtiger
Einkünfte (
§ 370 AO).
Zweifellos bildet jede materielle Straftat für sich eine geschlossene
prozessuale Tat. Kann aber eine mehrjährige Steuerhinterziehung alle
Betrügereien und Vergewaltigungen zu einer prozessualen Tat verklammern,
die der Täter in der Zwischenzeit begeht?
Das BVerfG meint "nein" und betrachtet damit einen Fall, der viel
engere Zusammenhänge aufweist: Wird bei einem Täter, der bereits wegen
eines Dauerdelikts verurteilt wurde (Bildung einer kriminellen
Vereinigung,
§
129 StGB), erst viel später bekannt, dass er auch an einem
Mordanschlag der Vereinigung beteiligt war, bleibt diese Handlung selbständig strafbar, auch wenn sie der Täter als Mitglied der
kriminellen Vereinigung beging (siehe
links).
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Das Problem
der gegenseitigen Verklammerung bei Dauerdelikten zieht sich bis tief in
das materielle Strafrecht hinein, weil sie verschiedene Handlungen zu
einer materiellen Tat zusammenziehen können (Handlungseinheit,
Bewertungseinheit).
Schlägt und vergewaltigt der Täter im Zusammenhang mit einer
Entführung sein Opfer, weil die Entführung ihm die Möglichkeit dazu
gibt, dann handelt es sich dabei um dieselbe prozessuale
und materielle
Tat.
Prellt der Entführer während der Entführung in einem Restaurant die
Zeche (während das Opfer in seiner Zelle sitzt), ist dazu ein
gesonderter Willensentschluss des Täters nötigt. Die Zechprellerei und
die Entführung haben
nichts miteinander zu tun. Es handelt sich auch prozessual um zwei
verschiedene Taten.
Was ist aber, wenn Dauerdelikte gleichzeitig begangen werden? Der
Täter hinterzieht gleichzeitig Steuern, besitzt Kokain zum nächstbesten
Konsum und hat eine verbotene Waffe? Alles zur selben Zeit, alles kommt
erst nach und nach heraus und ist der Gegenstand verschiedener Anklagen.
Tritt hier Strafklageverbrauch ein?
Der BGH bemüht dazu ein verständliches Wortbild
(2):
Eine
minderschwere
Dauerstraftat hat nicht die Kraft, mehrere schwerere Einzeltaten, mit
denen sie ihrerseits jeweils
tateinheitlich zusammentrifft, zu einer materiellrechtlichen Tat im
Sinne des
§ 52 Abs. 1 StGB
zusammenzufassen.
Das
Verfassungsrecht schützt den Täter völlig zu Recht davor, wegen
einer Unrechtsentscheidung mehrfach
bestraft zu werden. Das war zum Beispiel der Fall beim überzeugten, aber
abgelehnten Kriegsdienstverweigerer, der mehrfach seine Einziehung
verweigerte, weil er sich einmal dazu entschlossen hatte. Das war
abgrenzbar und auf eine - moralisch sogar nachvollziehbare - Konsequenz
beschränkt.
Es will hingegen nicht den gesellschaftlichen Totalverweigerer
schützen, der sich einmal entschlossen hat, beliebige Straftaten zu
begehen. Er bleibt wegen aller Straftaten strafbar, weil er sich immer
wieder neu zum strafbaren Handeln entscheidet und jedes Mal einen neuen
Tatentschluss bildet. Seine Entscheidung ist antagonistisch: Er
entscheidet sich gegen die Normen seiner Umwelt und gleichzeitig dazu,
in ihr zu verbleiben. Das hat nichts mit persönlicher oder
Meinungsfreiheit zu tun, sondern ist zynisch und sozialfeindlich. Darin
schützt ihn die Verfassung nicht.
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