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Mai 2010 |
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materielle und prozessuale Tat |
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Das Problem ist der Begriff "Tat", den das materielle Strafrecht (StGB) und das Verfahrensrecht (StPO) unterschiedlich verstehen. § 264 Abs. 1 StPO folgt dem verfassungsrechtlichen Tatbegriff, der einen geschlossenen geschichtlichen Vorgang meint, der mehrere Handlungen umfassen kann, die für sich eine Strafbarkeit begründen können. Darauf hat das BVerfG bereits 1977 hingewiesen (1). Das materielle Strafrecht betrachtet die Tat hingegen als Handlung und unterscheidet deshalb zwischen Tateinheit ( § 52 StGB) und Tatmehrheit ( § 53 StGB). Der Unterschied zwischen beiden Tatbegriffen ist dann kein Problem,
wenn es um die Beurteilung von Handlungen mit einem engen zeitlichen und
räumlichen Zusammenhang geht. Ein gutes Beispiel dafür ist der
betrunkene Autofahrer, der deshalb einen Unfall baut
(Straßenverkehrsgefährdung,
§
315c StGB), gleich darauf flüchtet und einen weiteren Unfall
verursacht (Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit Unfallflucht,
§§
315c,
142
StGB) und erneut flüchtet, ohne einen weiteren Unfall anzurichten,
bis er von der Polizei angehalten wird (Trunkenheit im Straßenverkehr in
Tateinheit mit Unfallflucht,
§§
316,
142
StGB). Materiell sind das drei Straftaten und prozessual eine Tat,
die in einem engen zeitlich-räumlichen Zusammenhang steht. |
Was ist aber, wenn der betrunkene Autofahrer noch während der Polizeikontrolle anfängt zu randalieren (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB), die Polizisten beleidigt ( § 183 StGB) oder sogar schlägt ( § 223 StGB)? Ist das noch dieselbe prozessuale Tat? Oder handelt es sich um verschiedene Taten, die zwar einen räumlich-zeitlichen Zusammenhang haben, aber wegen des unterschiedlichen Unrechtsgehalts verschiedene Taten im prozessualen Sinne sind? Insoweit wird von verschiedenen Rechtsgütern gesprochen. Die
Beleidigung richtet sich gegen die persönliche Ehre und die schlichte
Trunkenheitsfahrt gefährdet die Öffentlichkeit. Bei der Frage, ob es
sich um eine einheitliche prozessuale Tat handelt, muss man aber
betrachten, wie der räumliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den
Handlungen ist. Um eine prozessuale Tat handelt es sich dann, wenn alle
strafbaren Handlungen ohne erkennbare Unterbrechungen ineinander
übergehen. |
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unnatürliche Aufspaltung | |||
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Anders sieht es hingegen aus, wenn der betrunkene Autofahrer nach einer gewissen Ausnüchterung im Polizeigewahrsam dem Haftrichter vorgeführt wird und dabei gewalttätig und beleidigend wird. Die zwischenzeitlich vergangene Zeit bewirkt einen Schnitt (Zäsur). Die Alkoholvergiftung des Betroffenen mag noch immer enthemmend wirken, aber er hat genug Zeit gehabt, auch gedanklich tief durchzuatmen und sich zu fassen. Es handelt sich also um zwei verschiedene prozessuale Taten. Auch das materielle Strafrecht kennt zeitlich gestreckte Handlungen und Dauerdelikte. Dabei kann es sich um die ständige Ausbeutung eines Menschen handeln ( §§ 232, 233 StGB), um den strafbaren Besitz einer Waffe ( § 52 WaffG) oder das mehrjährige Verschweigen steuerpflichtiger Einkünfte ( § 370 AO). Zweifellos bildet jede materielle Straftat für sich eine geschlossene prozessuale Tat. Kann aber eine mehrjährige Steuerhinterziehung alle Betrügereien und Vergewaltigungen zu einer prozessualen Tat verklammern, die der Täter in der Zwischenzeit begeht? Das BVerfG meint "nein" und betrachtet damit einen Fall, der viel
engere Zusammenhänge aufweist: Wird bei einem Täter, der bereits wegen
eines Dauerdelikts verurteilt wurde (Bildung einer kriminellen
Vereinigung,
§
129 StGB), erst viel später bekannt, dass er auch an einem
Mordanschlag der Vereinigung beteiligt war, bleibt diese Handlung selbständig strafbar, auch wenn sie der Täter als Mitglied der
kriminellen Vereinigung beging (siehe
links). |
Schlägt und vergewaltigt der Täter im Zusammenhang mit einer Entführung sein Opfer, weil die Entführung ihm die Möglichkeit dazu gibt, dann handelt es sich dabei um dieselbe prozessuale und materielle Tat. Prellt der Entführer während der Entführung in einem Restaurant die Zeche (während das Opfer in seiner Zelle sitzt), ist dazu ein gesonderter Willensentschluss des Täters nötigt. Die Zechprellerei und die Entführung haben nichts miteinander zu tun. Es handelt sich auch prozessual um zwei verschiedene Taten. Was ist aber, wenn Dauerdelikte gleichzeitig begangen werden? Der Täter hinterzieht gleichzeitig Steuern, besitzt Kokain zum nächstbesten Konsum und hat eine verbotene Waffe? Alles zur selben Zeit, alles kommt erst nach und nach heraus und ist der Gegenstand verschiedener Anklagen. Tritt hier Strafklageverbrauch ein? Der BGH bemüht dazu ein verständliches Wortbild
(2): Das Verfassungsrecht schützt den Täter völlig zu Recht davor, wegen einer Unrechtsentscheidung mehrfach bestraft zu werden. Das war zum Beispiel der Fall beim überzeugten, aber abgelehnten Kriegsdienstverweigerer, der mehrfach seine Einziehung verweigerte, weil er sich einmal dazu entschlossen hatte. Das war abgrenzbar und auf eine - moralisch sogar nachvollziehbare - Konsequenz beschränkt. Es will hingegen nicht den gesellschaftlichen Totalverweigerer
schützen, der sich einmal entschlossen hat, beliebige Straftaten zu
begehen. Er bleibt wegen aller Straftaten strafbar, weil er sich immer
wieder neu zum strafbaren Handeln entscheidet und jedes Mal einen neuen
Tatentschluss bildet. Seine Entscheidung ist antagonistisch: Er
entscheidet sich gegen die Normen seiner Umwelt und gleichzeitig dazu,
in ihr zu verbleiben. Das hat nichts mit persönlicher oder
Meinungsfreiheit zu tun, sondern ist zynisch und sozialfeindlich. Darin
schützt ihn die Verfassung nicht. |
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Anmerkungen | |||
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Cyberfahnder | |||
© Dieter Kochheim, 11.03.2018 |