Bei der
richterlichen Überzeugungsbildung kommt es nicht darauf an, die sichere
Erkenntnis der Wahrheit zu erringen. Das Gericht darf sich auch
des Ausschlussverfahrens bedienen, indem es zunächst alle nach der
Lebenserfahrung gebotenen Möglichkeiten beim Tatablauf und schließlich auch die
Möglichkeit eines Dritten als Täter ausschließt. Das hat mit deutlichen
Worten der BGH jetzt noch einmal klargestellt.
BGH, Urteil vom 02.05.2012 - 2 StR 395/11, 8
Damit
wendet sich der BGH einerseits gegen leichtfertige Freisprüche "mangels Beweis" und
andererseits gegen mutwillige Verurteilungen:
Dieses methodische Vorgehen ist allerdings nur
dann eine tragfähige Grundlage für die Verurteilung wegen eines
Tötungsverbrechens und für die Feststellung der Täterschaft des
Angeklagten, wenn alle relevanten Alternativen mit einer den
Mindestanforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung
genügenden Weise abgelehnt werden, wobei ein nach der Lebenserfahrung
ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß
auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (vgl.
Senat, Urteil vom 2. August 1995 - 2 StR 221/94 ...;
Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261
Beweiswürdigung 16 <
Pressemitteilung>). Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche
persönliche Gewissheit setzt zudem ausreichende objektive Grundlagen
voraus. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die
Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruht
und dass sich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht als bloße
Vermutung erweist, die nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag
(vgl.
BGH, Urteil vom 2. Juli 1980 - 3 StR 204/80 ...;
Beschluss vom 26. September 1994 - 5 StR 453/94 ...).
Fehlen für die Täterschaft anderer Personen als des Angeklagten hier
auch unmittelbar tatbezogene Indizien, so darf selbst eine fernliegende
Tatbegehung durch einen Dritten nicht ohne Weiteres außer Betracht
gelassen werden. Vielmehr muss auch die Möglichkeit der Täterschaft
eines Dritten anhand von Tatsachen ausgeschlossen werden, um den
Angeklagten belasten zu können (vgl.
BGH, Urteil vom 19. Januar 1999 - 1
StR 171/98 ...).
Auseinandersetzung mit
Sachverständigen
Der Weg
dahin, gegen den bestreitenden Angeklagten zu entscheiden und sich
womöglich sogar über die Bedenken eines psychologischen Sachverständigen
hinweg zu setzen, ist jedoch schwierig, wie eine andere neue
Entscheidung zeigt. Das besonders dann, wenn "Aussage gegen Aussage"
steht und andere Beweismittel rar sind.
BGH, Beschluss vom 19.06.2012 - 5 StR 181/12
Die
Aussagepsychologin hatte entgegen ihrem schriftlichen Gutachten in der
Hauptverhandlung den Eindruck gewonnen, dass die Bekundungen der
einzigen Belastungszeugin nicht mehr
mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert seien.
In der Hauptverhandlung habe sich die „Qualität des Aussagematerials“
reduziert.
Ihren Bedenken ist das Tatsachengericht nicht gefolgt und es hat sich
auf die Aussage der Geschädigten gestützt. Damit ist es einen
fehlerträchtigen Weg gegangen.
<Rn 5>
Das Landgericht
hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten
bestreitenden Angeklagten alleine auf die Angaben der Nebenklägerin
gestützt. Es weist zwar auf die besonderen, an diese Beweiskonstellation
zu stellenden Anforderungen hin (vgl.
BGH, Beschlüsse vom 22. April 1987
– 3 StR 141/87 –
und vom
18. Juni 1997 – 2 StR 140/97,
BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1
und 14 ); gleichwohl
genügen die Urteilsgründe diesen Anforderungen nicht. Sie machen
vielmehr nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise
deutlich, dass die Jugendschutzkammer alle zur Beeinflussung der
Entscheidung geeigneten Umstände in einer für das Revisionsgericht
nachvollziehbaren Weise in die Überzeugungsbildung einbezogen hat.
<Rn 6>
Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen.
Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den
Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass
es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl.
BGH, Urteil vom 12. Juni
2001 – 1 StR 190/01). Es muss insbesondere auch dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten
wiedergeben, auf die es seine abweichende Auffassung stützt ( BGH, Urteil
vom 20. Juni 2000 – 5 StR 173/00,
NStZ 2000, 550). Aus den im
Urteil wiedergegebenen Ausführungen der Sachverständigen wird deutlich,
weshalb sie von einer Reduzierung der „Qualität des Aussagematerials“ in
der Hauptverhandlung ausgegangen ist, aufgrund derer sie nicht mehr an
ihrer Einschätzung im schriftlichen Gutachten festhalten könne (UA S.
19). Die Mutmaßung der Sachverständigen, das Aussageverhalten der
Nebenklägerin könne „aufgrund des großen Zeitintervalls“ zwischen
polizeilicher Vernehmung und Exploration einerseits und Hauptverhandlung
andererseits oder mit dem schwierigen Lebensabschnitt erklärbar sein, in dem
sich die Nebenklägerin befinde, ändert nichts an der – in einem
unaufgelösten Widerspruch zitierten – Wertung der Sachverständigen, dass
die Reduktion des Aussagematerials mit gutachterlichen Methoden nicht
durch Vergessensprozesse erklärt werden könne.
Strommastentheorie
Leute,
denen Böses widerfahren ist, sind nicht deshalb die besseren Menschen.
Auch sie können lügen, intrigieren und ihre Peiniger in die Pfanne hauen.
Wenn das vor Gericht geschieht, ist es meistens schon zu spät. Umfeld-
und bestätigende Ermittlungen sind dann kaum noch möglich und das
Gericht muss am Ende Farbe bekennen. Es kann dazu das
Ausschlussverfahren anwenden und minutiös alle Fakten, die für die
Täterschaft des Angeklagten sprechen und schließlich andere
Möglichkeiten ausschließen, erheben und bewerten. Dazu müssen ihm die
Ermittlungsbehörden das Material anliefern und reicht eben eine "schöne",
weil detaillierte, stringente und widerspruchsfreie Aussage nicht aus.
Ich verwendete bei exklusiven Belastungszeugen folgendes Bild: Ihre
Aussage ist eine Art Landkarte. Die Polizei muss sie mit Pflöcken an den
Stellen versehen, wo die belastenden Angaben durch andere Beweise
bestätigt oder in Frage gestellt werden können. Das können chemische
(DNA, Fasern u.a.), physikalische (Fingerabdruck, Werkzeugabdrücke und -riebe)
oder technische Spuren sein (Geodaten der Telekommunikation,
Logprotokolle, GPS-Daten), Augenscheinsgegenstände (Fotos u.a.) oder die
Aussagen Unbeteiligter.
Wenn sich daraus ein stringentes - nicht notwendig widerspruchsfreies -
Bild ergibt, dann kann ich mit Fug und Recht von einer schlüssigen
Beweislage ausgehen: Die überprüfbaren Fakten haben sich als zutreffend
erwiesen. Die nicht überprüfbaren Angaben bilden die "Kabel", die
zwischen den (soliden) Strommasten hängen. Doch auch sie sind nicht von
vornherein glaubhaft, sondern müssen ihren Wert an der Person der
Auskunftsperson und ihrer inneren Bedeutung messen lassen.
Das Thema
füllt Bücher und Regalreihen in Bibliotheken. Als Erkenntnisse aus den
beiden referierten Entscheidungen des BGH nehmen wir jedenfalls mit:
Eine
Verurteilung setzt den Ausschluss eines Dritten als Täter voraus, wobei
selbst "fernliegende" Konstellationen nicht ohne Grund ausgeschlossen
werden dürfen.
Spekulative oder Annahmen, für die - außer etwa der Einlassung des
Angeklagten - keine greifbaren Anhaltspunkte bestehen, dürfen
schlussendlich als unbedeutend verworfen werden.
Das
gilt auch für die Befundtatsachen, die ein Sachverständiger erhebt und
bewertet. Ihm nicht zu folgen verlangt von dem Gericht ein klare Aussage
darüber, warum es über eine bessere Erkenntnis verfügt. Das ist nicht
ganz einfach.
Die
wichtigste Aufgabe haben dabei die Ermittlungsbeamten, deren Fachwissen,
Intelligenz und Intuition bei der Frage verlangt sind, welche Beweise
gesichert werden können und welchen Aussagewert sie haben. Über die
Tatortarbeit und Absicherung von Beweisergebnissen können weitere
Bücherregale gefüllt werden.
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