1998 |
Höchstdauer (10 Jahre) wegen der ersten
SV entfällt |
2004 |
Einführung der nachträglichen SV |
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Einführung der SV wegen Rauschtat |
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Einführung der SV neben Unterbringung in
der Psychiatrie |
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Rückwirkungsanordnung |
2007 |
Einführung der SV auf rechtliche
Hinderungsfälle |
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Das
Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
und jetzt auch der Bundesgerichtshof streiten um die Grenzen der
Sicherungsverwahrung. Der BGH hat sich mit einem jungen Beschluss an die
Seite des EGMR gestellt und dürfte damit seine Entscheidungsbefugnisse
überschritten haben.
Kann ja 'mal passieren.
Neben
(Geld- und Freiheits-) Strafe kennt das StGB auch freiheitsentziehende
Maßregeln (
§§ 63 ff. StGB). Das sind die gerichtlich angeordneten
Unterbringungen
in einem psychiatrischen Krankenhaus (
§ 63 StGB),
in einer Entziehungsanstalt (
§ 64 StGB) und
in der Sicherungsverwahrung (
§ 66 StGB).
Die Sicherungsverwahrung wird gegen besonders gefährliche Hangtäter
verhängt, um die Öffentlichkeit vor ihnen zu schützen (
§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Während die anderen beiden Unterbringungen
auch das Ziel der Heilung haben ("Besserung") beschränkt sich die
Sicherungsverwahrung auf das präventive Wegsperren ("Sicherung"). Sie
ist ein besonders scharfes Schwert und letztes Mittel gegen besonders
gefährliche Formen der Kriminalität.
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Die
Vorschriften über die Sicherungsverwahrung - SV - sind zwischen 1998 und
2007 mehrfach erweitert worden. Dies betrifft ganz besonders den Wegfall
der Höchstdauer bei der ersten Anordnung der SV (1998) und die
Einführung der Nachträglichen SV (2004). Im einzelnen:
Die Unterbringung nach
§ 64 StGB ist auf die Dauer von 2 Jahren beschränkt (
§ 67d Abs. 1 S. 1 StGB), die in der Psychiatrie und in der
Sicherungsverwahrung kennen dagegen keine Obergrenzen mehr. Bis 1998 war
die Dauer der erstmals verhängten Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre
begrenzt. Seit der Einführung des Gesetzes zur Bekämpfung von
Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 gilt
diese Beschränkung mit Genehmigung des BVerfG nicht mehr
(2).
Darüber hinaus wurde mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung vom 23.07.2004 der
§ 66b StGB geschaffen, der die Sicherungsverwahrung gegen
solche Täter möglich macht, deren Gefährlichkeit erst während der
Verbüßung von Freiheitsentziehung deutlich wird. Auch dieses Gesetz hat
das BVerfG bestätigt
(3).
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§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB ist grundsätzlich auf Taten anwendbar, die
vor seinem Inkrafttreten – mithin vor dem 18. April 2007 – begangen
worden sind, und ausschließlich auf Straftaten, bei deren Aburteilung
die Verhängung von Sicherungsverwahrung aus Rechtsgründen ausgeschlossen
war. Die Sicherungsverwahrung rechnet zu den Maßregeln der Besserung und
Sicherung ( § 61 Nr. 3 StGB), für die nach
§ 2
Abs. 6 StGB das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht maßgebend
ist. Etwas anderes er-gibt sich auch nicht aus
§ 2 Abs. 6 StGB in
Verbindung mit
Art. 7 Abs. 1 MRK. Letzterer kann im Geltungsbereich von
§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung
gemäß
§ 2 Abs. 6 StGB angesehen werden.
(4). |
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Mit
Art 1a EGStGB wird angeordnet, dass die Aufhebung der Obergrenze
für die Dauer der SV ungeachtet der Tatzeit gilt.
Auch erst 2004 wurde mit
§ 66 Abs. 3 StGB die Möglichkeit geschaffen, dass im Falle einer
schwerwiegenden Rauschtat (
§ 323a StGB) die SV angeordnet werden kann. Seither ermöglicht
§ 66b Abs. 3 StGB zudem die Anordnung der nachträglichen SV, wenn die
Unterbringung des Täters in der Psychiatrie beendet werden muss.
2007 wurde schließlich
§ 66b Abs. 1 S. 2 StGB dahingehend erweitert, dass die nachträgliche
SV auch dann angeordnet werden kann, wenn die Gefährlichkeit des Täters
bereits zum Zeitpunkt seiner Verurteilung feststand, aber rechtliche
Hinderungsgründe bestanden, ihn auch zur SV zu verurteilen. Das ist zum
Beispiel der Fall gewesen, soweit der Beitrittsvertrag die Anordnung der
SV ausgeschlossen hat.
Hierzu hat
der BGH jüngst Stellung genommen und die Rückwirkung der neuen
Vorschrift anerkannt
(4).
Die abweichende Rechtsprechung des EGMR (siehe unten) führe aber dazu,
dass das Ermessen des Tatgerichts eingeschränkt und bei der
Ermessensausübung von einem grundsätzlichen Überwiegen des
Freiheitsrechtes und des Vertrauensschutzes des Beschwerdeführers
auszugehen ist.
Bei den
gegenwärtigen Streiten im Zusammenhang mit der SV
(5)
geht es um die Frage des Rückwirkungsverbotes (
Art. 103 Abs. 2 GG) und des Verbotes der Doppelbestrafung (
Art. 103 Abs. 3 GG). Im Wesentlichen geht es dabei um folgende
Fallgruppen:
Zulässigkeit der SV über die Dauer von 10 Jahren hinaus, wenn der Täter
zu einem Zeitpunkt handelte, als noch die zehnjährige Höchstdauer bei der
Erstanordnung galt.
Zulässigkeit der nachträglichen SV, wenn der Täter vor dem Inkrafttreten
der neuen Vorschrift handelte.
Zulässigkeit der nachträglichen SV, wenn die Gefährlichkeit des Täters
bereits bei seiner Verurteilung feststand.
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Strafe ist
eine Sanktion, die sich nach der Schuld des Täters richtet (
§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Deshalb betrachtet der Gesetzgeber die
freiheitsentziehenden Maßregeln nicht als Strafe, sondern als Maßnahme
zum Schutz der Öffentlichkeit. Die Sicherungsverwahrung dient nicht der
Vergeltung zurückliegender, sondern der Verhinderung zukünftiger
Straftaten. Nicht zuletzt deshalb sind die
Voraussetzungen zu ihrer Anordnung besonders hoch gesetzt und bestehen
strenge Regeln zur Prüfung ihrer Fortdauer und der Verhältnismäßigkeit.
Das sieht
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR - anders. Aus
Art. 5 Abs. 1 MRK folgert er, dass die deutsche SV wie eine Strafe
zu behandeln ist und deshalb auch ihre Regeln dem Rückwirkungsverbot
unterliegen
(6).
Entschieden
hat der EGMR über die Abschaffung der Obergrenze bei der Dauer der
ersten angeordneten SV
(7).
Über den Einfluss der Entscheidungen des EGMR auf die deutsche
Rechtspraxis wird nicht vom Grundsatz her, sondern wegen der Details
gestritten
(8):
Das Europarecht hat den Rang eines einfachen Bundesrechts und steht
damit über Landesrecht und Rechtsverordnungen aber unterhalb der deutschen
Verfassung.
Mit den beiden hier angeführten Entscheidungen hat sich der BGH mit
dem EGMR auseinander gesetzt und zwei unterschiedliche Lösungen
gefunden.
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Die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand.
Zwar hat das Landgericht die Voraussetzungen des
§
66b Abs. 3 StGB rechtsfehlerfrei bejaht, jedoch ist diese Bestimmung
gemäß
§ 2
Abs. 6 StGB i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK nicht auf Taten anwendbar, die vor ihrem
Inkrafttreten begangen worden sind
(9). |
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Im Wege der
Auslegung bekommt der EGMR in einer anderen Entscheidung des BGH ein so starkes
Gewicht, dass er deutsches Gesetzesrecht verdrängt
(9).
Als das LG Trier 1991 den Angeklagten zur Unterbringung in der
Psychiatrie verurteilte (
§ 63 StGB) konnte nicht auch die SV angeordnet werden, weil
seinerzeit die SV eine schuldhafte Straftat voraussetzte. Erst
§ 66b Abs. 3 StGB lässt seit 2004 die Verurteilung zu SV neben der
Unterbringung in der Psychiatrie zu.
In Bezug auf "Altfälle" nutzt der BGH das Urteil des EGMR als
Auslegungshilfe für den
§ 2
Abs. 6 StGB:
Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich
nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur
Zeit der Entscheidung gilt. Das würde dem Wortlaut nach heißen müssen,
dass auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche SV
abzustellen ist. Anders der BGH:
Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK schreibt für jede Form von Strafe die
Anwendung des Tatzeitrechtes vor. Wenn die SV europarechtlich als Strafe
zu behandeln ist, dann gilt für sie das Tatzeitgebot der MRK.
Dabei setzt sich der BGH auch mit dem BVerfG auseinander, das
Rückwirkungsregeln zur SV als verfassungsrechtlich wirksam angesehen
hat. Das mag ja sein, sagt der BGH, aber dem einfachen Bundesrecht ist
es unbenommen, stärkere und weitere Freiheitsrechte oder
Eingriffsschranken zu setzen als das Verfassungsrecht. Bei
verfassungsrechtlicher Wirksamkeit der Rückwirkungsregeln zur SV
scheitern sie jedoch am konkurrierenden Bundesrecht nach Maßgabe der
Auslegung des EGMR.
Anders als
Gaede, der den BGH lobt und seine Entscheidung als richtungsweisend
ansieht
(10),
habe ich große Schwierigkeiten mit der handwerklichen Qualität dieser
Entscheidung.
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Es sind zwei Auslegungsgrundsätze, die mich an dem BGH zweifeln
lassen:
Die
Grenze der Auslegung bildet der Wortlaut (Larenz).
Das
besondere Gesetz bricht das allgemeine.
Zunächst
geht es um die Anwendung des richtigen Gesetzes:
Art. 7 MRK ist zweifelsfrei das allgemeinere Gesetz gegenüber
§ 2
Abs. 6 StGB. Auf bundesgesetzlicher Ebene konkurrieren sie
gleichrangig miteinander. Das führt dazu, dass das allgemeinere Gesetz
verdrängt wird, also die Menschenrechtskonvention. Daran kann auch seine
Auslegung durch den EGMR im Einzelfall nichts ändern.
Wenn es darum geht,
§ 2
Abs. 6 StGB auszulegen, dann bildet dessen Wortlaut die absolute
Grenze für seine Auslegung. Der sagt aber ausdrücklich, dass das Recht
zur Entscheidungszeit anzuwenden ist und nicht das zur Tatzeit. Auch im
Wege der Auslegung kann die Rechtsprechung des EGMR nicht über die
Wortlautgrenze hinausschießen.
§ 2
Abs. 6 StGB kann nur dann nach Maßgabe der MRK unanwendbar sein,
wenn sie das höherrangige Recht wäre. Das wäre sie aber nur, wenn sie
Grundsätze für allgemeine Menschenrechte formulieren würde, die über die
im Grundgesetz beschriebenen hinausgingen. Dagegen steht aber
Art. 103 GG, zu dessen Auslegung der BGH nur berufen ist, solange er
nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG konkurriert. Wenn sich das
BVerfG bereits entschieden hat, bleibt dem BGH nur, das höherrangige
Rechts anzuwenden.
Ich
fürchte, die Entscheidung des BGH vom Mai 2010 weist in die falsche
Richtung. Das ist deshalb besonders tragisch, weil die Verpflichtung der
Oberlandesgerichte, bei beabsichtigten abweichenden Entscheidungen zur
SV dem BGH vorzulegen (
121 Abs. 2 Nr. 3 GVG) erst jüngst in Kraft getreten ist
(11).
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