Die Strafkammer hat sich hinsichtlich des Raubüberfalls vom 12.
Februar 2007 unter anderem deswegen von der Täterschaft des Angeklagten
überzeugt, weil der Zeuge K. als Täter nicht in Betracht komme. Hierzu
hat sie sich auch auf eine "Täteranalyse des Landeskriminalamts"
gestützt. Danach müsse es sich um "einen strukturiert handelnden Täter
gehandelt haben, der erfahren mit Einbruchs- und Raubdelikten" sei (UA
S. 22). Die Analyse beschreibe ihn als "Person mit Erfahrungen im
Einsatz von körperlicher Gewalt, wobei Körperverletzungs- und
Raubdelikte zu vermuten sind, Erfahrung bei der Begehung von Einbruchs-
und Diebstahlstaten und sicherer und kontrollierter Bewegung in einem
fremden Objekt, fachgerechter Einsatz von Einbruchswerkzeug, gezielter
Auswahl des Stehl- und Raubgutes. Dabei wirkt die Tat nicht wie eine
Beschaffungskriminalität, sondern eher wie eine kontrollierte
Berufsausübung" (UA S. 29). Dem schließe sich die Kammer an. Die
Merkmale träfen auf den Angeklagten, nicht dagegen auf den Zeugen K. zu.
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Soweit die Ermittlung der Tatsachen besonderer Sachkunde bedarf,
über die das Gericht nicht verfügt, hat es sich diese durch einen
Sachverständigen vermitteln zu lassen
(2).
...
Das Gericht verfehlt daher die ihm nach
§ 261 StPO obliegende Aufgabe, wenn es Feststellungen und
Beurteilungen eines Sachverständigen ungeprüft und ohne eigene Bewertung
des Beweisergebnisses übernimmt
(3).
Diese Grundsätze stellt der BGH (2008) seiner Überprüfung des
links geschilderten Sachverhalts voran und bemängelt dann, dass sich das
erkennende Gericht die Beurteilungen und Bewertungen des polizeilichen
Sachverständigen zu eigen gemacht hat, ohne die dabei zugrunde liegenden
Erfahrungssätze zu prüfen und seinerseits zu bestätigen.
Kurz
gesagt: Die Beweiswürdigung obliegt allein dem erkennenden Gericht.
Das gilt zunächst wegen der Glaubwürdigkeit einer Person und der
Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Deshalb ist ein
"Glaubwürdigkeitsgutachten" meistens ungeeignet (
§ 244 Abs. 3 StPO), wie es häufig von Verteidigern wegen
tatsächlicher oder zusammengereimter Widersprüche in einer Aussage
gefordert wird. Ausnahmen gibt es in Bezug auf kindliche Zeugen, bei
denen Realitätswahrnehmung, Suggestion und Fantasie oder
fantasiegesteuerte Verarbeitung nahe beieinander liegen und sich
vermengen können. Das gilt auch bei Persönlichkeitsveränderungen mit
Krankheitswert bei echten hirnorganischen oder etwa einer
Posttraumatischen Belastungsstörung.
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Beweiswürdigung heißt besonders auch, den Aussagegehalt eines
Beweismittels herauszuarbeiten. Ich spreche insoweit von
Geltung. Schließlich ist in einer Gesamtschau das Zusammenwirken der
verschiedenen Beweismittel zu bewerten, wobei sich ähnlich
geltungsstarke Beweise gegenseitig entkräften und gleichgerichtet
schwache gegenseitig stärken können. Am Ende wird von der gerichtlichen
Überzeugungsbildung gefordert, dass ihr keine vernünftigen Zweifel
entgegen stehen.
Für die
gebotene Bewertung gibt es Erfahrungssätze. Sie können aus der eigenen
Erfahrungswelt des Richters stammen, wissenschaftlich erprobt und
untermauert sein oder auch aus Erfahrungen mit ähnlichen und
vergleichbaren Sachverhalten abgeleitet werden. Einer der schillernsten
Begriffe sind in diesem Zusammenhang sind die "kriminalistischen
Erfahrungen". Sie entfalten gelegentlich ein Eigenleben, wenn die Fakten
fehlen.
"Täteranalysen" der hier angesprochenen Art sind vor allem statistische
Methoden des
Profilings, die Aussagen mit einer mehr oder weniger guten
Wahrscheinlichkeit möglich machen. Wenn der BGH mahnt, die damit
abgeleiteten, fachkundigen Schlüsse dürfe das Gericht nicht ungeprüft
übernehmen, ist das völlig richtig.
Es macht einen Unterschied, ob ein psychologisch gebildeter Fachmann
Aussagen über das Täterverhalten trifft oder ein erfahrener Ermittler.
Der eine wie der andere kann mit seiner Beurteilung falsch liegen.
Deshalb kommt es besonders darauf an, die gedanklichen Schritte
nachzuvollziehen, die zu einem bestimmten Schluss führen.
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"Täteranalysen" arbeiten weniger mit physikalischen Messgrößen als mit
"weichen" statistischen Verteilungen. Wenn sie - wie hier - zum
Ausschluss eines Verdächtigen führen sollen, können sie keine hohe
Geltung beanspruchen, aber Zweifel beseitigen. Wenn also nur die
Möglichkeit besteht, der "Zeuge K." könne anstelle des Angeklagten eine
Tat begangen haben, ist die Täteranalyse ein Mosaikstein für die
Überzeugungsbildung des Gerichts, der von anderen Anhaltspunkten in
seiner Geltung gestützt werden muss.
Die hier
angesprochenen Grundsätze gelten gleichermaßen für die ermittelnden
Polizisten und Staatsanwälte. Sie haben Aufgaben, die Rollen definieren,
und die Rolle eines Ermittlers ist es nicht, entweder alle möglichen
Leute schrankenlos zu verfolgen, fantastische Gedankenbilder aus mehr
unsicheren als sicheren Erfahrungswerten abzuleiten oder sich mit dem
Klageruf "das bringt ja doch nichts" der Strafverfolgung zu
verweigern. Professionelles Handeln dürfen der Arbeitgeber und die
Öffentlichkeit gleichermaßen erwarten.
Mich
erschreckt, wenn ich bei Strafverfolgern (auch Richtern) mangelnde
Neugier bemerke. Das gilt besonders für interdisziplinäre Unkenntnisse
und offenes Desinteresse an dem, was neben dem Tellerrand liegt. Doch
das ist ein anderes Thema.
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Der "Juristerei"
wird häufig die Qualität einer "Wissenschaft" des Rechts abgesprochen.
Unter dem Blickwinkeln der Mathematik oder der Naturwissenschaften
stimmt das. Recht ist im Einzelfall nicht mess- oder wägbar.
Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben jedoch Methoden
entwickelt, wie Sachverhalte zu bestimmen und das Recht auf sie
anzuwenden ist. Ihre Ursprünge entstammen der Logik, der Sprachenkunde
und der Philosophie, also denselben Wurzeln, die für die Mathematik und
die "harten" Naturwissenschaften leitend waren. Der Gegenstand des
Rechts sind neben natürlichen Prozessen vor allem jedoch Menschen sowie
soziale und wirtschaftliche Prozesse und gesellschaftliche Gemenge. Die
Rechtswissenschaft ist deshalb keine "Science" im Sinne der Physik und
ihrer nahen Disziplinen, aber genau so ein Kind der Naturphilosophie,
aus denen auch sie stammen. Sie muss Regelwerke auf Beobachtungen
anwenden, die Geltung der Regelwerke im Einzelfall präzisieren
(Auslegung) und schließlich ein Ergebnis formulieren. Diesen Prozess
nennt man Syllogismus: Obersatz (abstrakt), Untersatz (konkret),
Schluss; er geht auf Aristoteles zurück.
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