Nach forensischer Erfahrung besteht vor allem in Verfahren, in denen
massenweise und gleichförmig begangene Delikte angeklagt sind, das
praktische Bedürfnis, die Hauptverhandlung von der zeitaufwändigen
Verlesung von Details der einzelnen Taten zu entlasten (so auch
BGH, Beschluss vom 17. November 2009 - 3 ARs 16/09 < in
dieser Sache >, Rn. 5 ...). Dies hängt im vorrangig - aber nicht
ausschließlich - betroffenen Bereich der Wirtschaftkriminalität mit der
zunehmenden Verfolgungsdichte und mit neuen Kriminalitätsformen
zusammen. Auch wenn der Staatsanwalt, der stets gehalten ist, die
Anklageschrift klar, übersichtlich und verständlich abzufassen (vgl.
Nr. 110 Abs. 1 RiStBV), die Aufnahme von Einzelheiten in
den zu verlesenden Anklagesatz auf das Nötigste zu beschränken hat, hat
die genannte Entwicklung dazu geführt, dass in einer zunehmenden Zahl
von Einzelfällen zur Konkretisierung der Geschädigten, des Tatortes, der
Tatobjekte oder des jeweils konkreten Einzelschadens umfangreiche
Details in den Anklagesatz aufzunehmen sind. Die nach dem bisherigen
Verständnis von
§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m.
§ 200 Abs. 1 Satz 1 StPO auch in solchen Fällen stets
erforderliche Verlesung der Darstellung sämtlicher angeklagter
Einzelfälle oder Teilakte kann dann viele Stunden oder sogar mehrere
Tage lang dauern. Hierdurch werden die Ressourcen der Justiz sowie aller
anderen Verfahrensbeteiligten erheblich belastet, ohne dass dem ein
erkennbarer Informationsgewinn gegenüber steht.
(2)
<Rn 16> |
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11-03-37
Ich habe
selber 'mal tagelang im Wechsel mit zwei Kollegen eine Anklageschrift
wegen jahrelangem serienmäßigen Betrug im Zusammenhang mit
Kapitalanlagen verlesen. Man kann nur hoffen, dass die anderen
Verfahrensbeteiligten (8 Angeklagte, 17 Verteidiger und die notwendigen
Gerichtspersonen) gute Lektüren dabei hatten. Die Masse an Fakten,
möglicherweise noch in ermüdender Tonlage vorgetragen, mal zu schnell,
mal zu langsam gesprochen, kann sich niemand merken. Das ist nur noch
eine Konditionsprobe für die Staatsanwälte einerseits und eine Strafe
für nichts und wieder nicht andererseits.
Die
Anlageschrift hat zwei wichtige Funktionen. Das ist zunächst die
Umgrenzungsfunktion, die dazu führt, dass die erhobenen Vorwürfe so
genau beschrieben und räumlich/zeitlich eingegrenzt werden, dass keine
Verwechslung mit anderen Lebenssachverhalten erfolgen kann und die als
strafbar bezeichneten Handlungen und Folgen in ihren Kernen eindeutig
bestimmt sind. Hinzu kommt die Informationsfunktion, die über die
sachliche Umschreibung der Vorwürfe hinaus auch die Beweismittel und
ihre Bewertung verlangt, um es dem Angeschuldigten zu ermöglichen, sein
Prozessverhalten auf die Anklage einzustellen.
Die Anklageschrift besteht aus mehreren Teilen. Das ist zunächst der
Anklagesatz, in dem der Angeschuldigte mit seinen Personalien
individualisiert, der Vorwurf bezeichnet und die anzuwendenden
Vorschriften benannt werden (
§ 200 Abs. 1 StPO). Dieselbe Vorschrift verlangt auch, dass die
Beweismittel angegeben werden. Hinzu kommt das wesentliche Ergebnis der
Ermittlungen (
§ 200 Abs. 2 StPO), in dem die Einzelheiten über die Person des
Angeschuldigten sowie seinen Vorstrafen und schließlich der Inhalt der
Beweismittel und ihre Bewertung beschrieben werden.
Alles zusammen bildet eine Einheit auf der Grundlage der Akten und
Beweismittel. Auf Rechtsfragen geht die Anklageschrift grundsätzlich
nicht ein, außer es besteht dazu ein besonderer Anlass. Das können
spezialrechtliche Fragen sein, streitige oder ungewöhnliche Auslegungen
oder Auseinandersetzungen mit der Verwertbarkeit, um Beispiele zu
nennen.
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Immer
wieder ist streitig gewesen, ob Tabellenwerke oder andere Schriftstücke
zur Vermeidung von Ausuferungen und Wiederholungen als Anlagen zur
Anklageschrift beigefügt werden dürfen und deshalb ihr Bestandteil sind.
Anerkannt ist bereits länger, dass der Anklagesatz auf die Einzelheiten
im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen verweisen darf
(1).
Dieser Streit bekommt aus nahe liegenden Gründen immer wieder neue
Nahrung: Muss zwischen Anklagesatz und wesentlichem Ergebnis ein
ausuferndes Tabellenwerk erstellt werden, in dem nicht nur jeder Zeuge
und Sachverständige, die geladen werden müssen, sondern auch jedes
Schriftstück, Bild und sonstiges Beweismittel aufgeführt werden? Die
Verweiserleichterung macht es klar: Es reicht die Erörterung im
wesentlichen Ergebnis. Das erschwert dem Gericht die Vorbereitung der
Hauptverhandlung, weil es nicht einfach nur "die Zeugen aus der
Anklageschrift" laden kann, sondern sich eigene Gedanken über die
Struktur und den Ablauf der Hauptverhandlung machen muss. Genau das ist
auch seine Aufgabe.
Die
Anklageschrift ist keine Wiedergabe der Akten, sondern eine
Zusammenfassung. Das Problem dabei zeigt sich besonders dann, wenn es um
die Wiedergabe von Zeugenaussagen geht. Ich vertrete die Ansicht, dass
alle Beweismittel und damit auch die Zeugenaussagen auf ihren
wesentlichen Kern zusammen zu fassen sind. Wenn ein Polizist über den
Tatort bei seinem ersten Eintreffen berichten kann, dann genügt es, nur
das auszuführen und die wesentlichen Feststellungen zu benennen. Nur
dann, wenn es auf die präzise Wiedergabe von Worten oder Zusammenhängen
ankommt, müssen sie auch im Wortlaut zitiert werden.
Dafür sprechen zwei Gründe. Ausufernde Schilderungen versperren den
Blick auf das Wesentliche und dem Angeschuldigten soll unzweideutig klar
gemacht werden, warum ich ihm Böses vorwerfe. Dazu muss ich auch
schmückenden und weitgehend aussagemangelnden Unflat ausscheiden und mit
eigenen Worten umreißen.
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Mit
erfreulicher Klarheit hat der BGH jetzt ausgeführt, dass zumindest der
Anklagesatz bei gleichartigen Serientaten schlank gehalten werden darf
(2).
Tragend sind die Gründe, die ich eingangs genannt habe: Der Angeklagte,
die Schöffen und die Öffentlichkeit haben nichts davon, wenn sie einfach
nur einer Wortflut ausgesetzt werden. Um wirklich zu verstehen, was dem
Angeklagten vorgeworfen wird, benötigen sie ein Management-Fassung, in
der die Knackpunkte, die sich wiederholende Art der Tatbegehung und das
Volumen des Schadens und der Geschädigten zusammengefasst werden.
Die Informations- und Umgrenzungsfunktionen werden davon nicht
betroffen. Sie müssen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen
weiterhin ausgeführt werden und mit der Zustellung der schriftlichen
Fassung der Anklageschrift werden der Angeschuldigte und sein
Verteidiger schon vorher über die sachliche Eingrenzung der Vorwürfe und
den Gehalt der Beweismittel informiert.
Auch den
Schöffen, denen keine Akteneinsicht zusteht, ist damit gedient:
Sie sollen durch die Verlesung mit dem Verhandlungsgegenstand und
den Grenzen, innerhalb derer sich die Urteilsfindung zu bewegen hat, so
bekannt gemacht werden, dass sie dieses Amt ausüben können. Auch deshalb
ist die Anklage verständlich und erfassbar zu gestalten <Rn 28>.
Sie
werden durch eine konzentrierte und gruppierte Darstellung der
wesentlichen Sachverhalte weitaus besser informiert als durch die
langatmige Verlesung eines etwa nur chronologisch geordneten
Sachverhalts mit einer unüberschaubaren und daher nicht einprägbaren
Menge von Einzeldetails. Nach aller forensischer Erfahrung ist eine
solche Verlesung nicht nur für die gedankliche Erfassung des
Anklagevorwurfs nutzlos; sie führt darüber hinaus sogar zu einer
Ermüdung, die die Aufmerksamkeit für das einer solchen Verlesung
nachfolgende Verfahrensgeschehen beeinträchtigen kann <Rn 28>.
Ihnen darf der Anklagesatz auch in schriftlicher Form ausgehändigt
werden <Rn 30>.
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Die neue
Freiheit ist für die staatsanwaltschaftliche Praxis durchaus
zwiespältig. Sie kann nicht für Anklagen zum Strafrichter oder für
Strafbefehle gelten, bei denen auf das wesentliche Ergebnis der
Ermittlungen verzichtet werden darf. Dorthin dürfen die Einzelheiten
verlagert werden. Sie müssen aber nach wie vor ausgeführt und dem
Angeklagten mitgeteilt werden.
Im Endeffekt verlangen schlanke Anklagesätze vom Staatsanwalt mehr
als zuvor. Er muss im wesentlichen Ergebnis alle Einzelheiten der
Vorwürfe ausführen und sich dann darauf konzentrieren, wie er sie
sinnvoll und anschaulich zusammen fasst.
Das beklage ich nicht. Gerade die Zusatzleistung, die
Arbeitsergebnisse aus den Ermittlungen auf ihren wesentlichen Kern zu
reduzieren, ist eine Qualitätskontrolle. Damit bekommt das wesentliches
Ergebnis ein neues Gewicht. Es darf nicht einfach nur mit wichtig
erscheinenden Einzelheiten angefüllt, sondern muss strukturiert und
geplant werden.
Das
wichtigste Strukturelement ist die prozessuale Tat. Bei schlanken
Anklagesätzen wird die staatsanwaltschaftliche Überzeugungsarbeit in das
wesentliche Ergebnis verlegt. Es ist kein Aktenauszug mehr, sondern
verlangt nach zusammen fassenden Erklärungen und ihre Unterfütterung mit
Fakten.
Bei der
juristischen Ausbildung werden diese Konsequenzen nur langsam ankommen,
in der juristischen Praxis wahrscheinlich noch später. Das macht nichts.
Wir werden das schon lernen!
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Wenn
zwei Polizisten zu einem Gespräch über ein Ermittlungsverfahren
erscheinen, ist das normal. Kommen sie zu Dritt, ist Vorsicht angesagt.
Dann könnte irgendetwas vorabgesprochen sein, was man wieder hinter- und
rausfragen muss. Kommt ein Polizist alleine, dann ist auch Vorsicht
angesagt ...
Auch
polizeiliche Berichte bergen Klippen. Einer der faulsten, den ich erlebt
habe, bestand aus zwei Fakten: An zwei aufeinander folgenden Tagen
wurden in weit auseinander liegenden Stadtteilen zwei Autos desselben
Herstellers, nicht aber desselben Modells gestohlen. Nach mehreren
Seiten des Berichts entstand aus vielen kriminalistischen Erkenntnissen,
Annahmen und Vermutungen das Abbild einer baltischen Bande, die ihr
Geschäftsfeld von einer hanseatischen Großstadt in unsere Stadt verlegt
hat. Bullshit. Damit sollten dann Telefonüberwachungen und andere
verdeckte Ermittlungen begründet werden.
Überraschung ernte ich dann häufig, wenn ich sage, dass zunächst ich
überzeugt werden muss, bevor ich einen Antrag zum Ermittlungsrichter
sende. Ach?
Besondere Vorsicht ist geboten, wenn in polizeilichen Berichten
vorschnell von einem dringenden Tatverdacht, Banden, internationalen
Hinterleuten oder vermuteten hierörtlichen Repräsentanten die Rede ist.
Hier gilt die Frage nach den Fakten, die der kriminalistischen Bewertung
unterzogen werden. Viel zu häufig bleibt es bei Kästners Antwort auf die
Frage nach dem Positiven: Ja, wo sind sie denn?
Nichts gegen kriminalistischen Erfahrungen. Ich habe auch eine ganze
Menge davon. Sie müssen aber auf Fakten angewendet werden und dürfen
kein Eigenleben entfalten.
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Es
gibt Bauchgefühle und ich habe auch schon vielen erfahrenen
Strafverteidigern offen gesagt, dass ich allein aus Erfahrung eine
bestimmte Vermutung habe und deshalb bestimmte Auskünfte oder
Beweismittel hätte. Gelegentlich habe ich offene Zustimmung bekommen:
Bauchgefühl ist ganz häufig das beste, das man haben kann. So habe ich
viele Informationen erhalten, die ich mir auch anders, aber aufwändiger
hätte beschaffen können. Der Verteidiger hat die betreffende Information
zuerst gehabt und sich darauf einstellen können. Das geht nicht in jedem
Fall, nicht bei jedem und auch nur dann, wenn man einen gefestigten Ruf
hat.
In
Bezug auf das Skimming-Strafrecht musste ich mich in den letzten Monaten
überhaupt nicht mehr mit (erfahrenen, etablierten und professionellen)
Verteidigern über die Grundlagen streiten. Sie kennen das
Arbeitspapier Skimming #2.2
und haben auch die Quellen nachrecherchiert - vereinzelt nicht durch
Klicks auf die Links im PDF-Dokument, sondern mit kostenträchtigen
Druckabfragen - und überprüft.
Für
jeden juristischen Beruf gilt, dass es ein professionelles Berufsbild
gibt und jede Einzelperson von den anderen daran gemessen wird.
Schlechte Richter erkennt man daran, dass sie ihre Aktenunkenntnis
offenbaren, schlechte Staatsanwälte daran, dass sie ihre Ziele im
Unklaren lassen, und schlechte Verteidiger daran, dass sie mit
formalisierten Sprechblasen unkonturierte Möglichkeiten in Worte fassen.
Es gibt noch mehr Kriterien, zum Beispiel das, dass ich keiner
Verständigung zugeneigt bin mit einem Verteidiger, mit dem ich die
Erfahrung gemacht habe, dass er dennoch ein Rechtsmittel einlegt. Das
ist nicht verboten, aber mit Verlaub ...
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