Was zunächst als Schwäche des IGF betrachtet wurde – kein
Entscheidungsgremium zu sein –, gilt heute als die eigentliche Stärke.
Wenn Regierungsvertreter, Unternehmer, Internetnutzer und technische
Experten zusammenkommen und unter dem Druck stehen, sich nach vier Tagen
auf eine finale Erklärung einigen zu müssen, kann nicht viel rauskommen.
Jeder denkt dann nur daran, wie er seine Position in das
Abschlussdokument bringt, und am Schluss trifft man sich beim kleinsten
gemeinsamen Nenner.
(1) |
|
Ab heute
tagt das 5. Internet Governance Forum - IGF - in Vilnius, der Hauptstadt
von Litauen
(1).
Die jährliche Veranstaltung unter Federführung der Vereinten Nationen
ist ein Beratungsgremium ohne Entscheidungsbefugnisse oder
Bindungswirkung
(2).
Gastgeber ist das jeweilige Veranstaltungsland.
Das IGF hat sich Anerkennung damit verschafft, dass in ihm anerkannte
Fachleute und Entscheidungsträger zu Wort kommen. Dadurch ist es zu
einem wichtigen Sprachrohr für die Offenheit (Meinungsfreiheit, freier
Zugang zu Informationen), Sicherheit (Spam, Cybercrime), Verschiedenheit
(Sprachenvielfalt, lokale Besonderheiten) und Zugänglichkeit
(Netzneutralität, Standards, Zugangskosten) des Internets geworden.
Die diesjährige Veranstaltung steht unter der Überschrift "Die
Zukunft gemeinsam gestalten"
(3)
und der Veranstaltungsplan ist mehrgleisig und straff
(4)
und deckt alle üblichen Themenfelder ab, ohne besondere Schwerpunkte zu
zeigen.
Üblicherweise am Vortag, also gestern, traf sich das Global Internet
Governance Academic Network - GigaNet
(5)
am selben Veranstaltungsort, das jedenfalls mit einem Thema
Aufmerksamkeit verdient:
|
Die Rechtswissenschaftlerin Joanna Kulesza von der Universität Lodz
sprach sich dafür aus,
dass zentrale Infrastrukturen des Netzes wie etwa Rootserver oder
Unterseekabel ebenfalls internationalen Schutz genießen sollten, auch
wenn sie von privaten Unternehmen betrieben werden
(7).
Sie geht sogar noch weiter und untersucht das Kriegsvölkerrecht mit dem
Ergebnis, dass Cyber-Angriffe nicht mit militärischen Aktionen
beantwortet werden dürfen, und fragt nach der staatlichen Verantwortung
für solche Angriffe, wenn sie vom eigenen Staatsgebiet aus geführt
werden
(8).
Das
Kriegsvölkerrecht unterscheidet zwischen dem "Recht zum Krieg", also dem
Anlass für eine gewalttätige Auseinandersetzung, und dem "Recht im
Krieg", also zum Beispiel beim Umgang mit der Zivilbevölkerung und
Gefangenen. Seine Parteien sind die Staaten und die Staatengemeinschaft,
also die Vereinten Nationen.
Die überbrachten Kriegsregeln passen jedoch nicht zum Cyberwar, wie
ich ihn erwarte
(9).
Seine Mitspieler sind nicht allein rivalisierende Staaten, sondern auch
Wirtschaftsunternehmen, politische Aktivisten, Terroristen und schlichte
Verbrecher.
Kulesza
stellt die richtige Frage nach der staatlichen Verantwortung für die
kriegerischen Handlungen, die vom eigenen Staatsgebiet ausgehen.
Die streitenden Parteien im Cyberwar werden sich kaum um Auflagen und
Spielregeln zum Anlass und zu den Auswirkungen der Auseinandersetzung
kümmern. Die Konsequenz daraus ist, dass das Völkerrecht auch staatliche
Verantwortung fordert, die auch darin besteht, Cyberkrieger zu bekämpfen
und die Staatengemeinschaft vor ihnen zu schützen.
|
|
Dieser
Schluss ergibt sich daraus, dass nicht-staatliche Aggressoren nur dann
mit kriegerischen Mitteln bekämpft werden dürfen, wenn sie offen im
Auftrag einer Regierung auftreten. Das ist im Cyberwar nicht zu
erwarten.
Wenn aber eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Bekämpfung des
Cyberwar besteht, sind die Staaten in der Pflicht, auch nicht-staatliche
Kriegs(be)treiber zu bekämpfen, wozu sie auch die Hilfe anderer Staaten
rufen können.
Der in
Vilnius gemachte Vorstoß ist beachtlich und führt in die richtige
Richtung. Ich glaube nur, dass das Bewusstsein für die Gefahren des
Cyberwar noch nicht bei den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik
und schon gar nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist.
Hierzulande verfolgt man eher noch die Politik eines einheitlichen
Netzes ohne konkurrierende Netzsysteme
(10),
was den Ideen vom Internet-Reset
(11)
eher Vorschub leistet und dem Schutz Kritischer Infrastrukturen eher
abträglich ist
(12).
|
15.09.2010:
Eine Arbeitsgruppe des Europarates ist Kuleszas Vorschlägen gefolgt
(13).
Sie hat Handlungspflichten der beteiligten Staaten zum Schutz kritischer Internetressourcen in grenzübergreifenden
Zusammenhängen zur Diskussion
gestellt.
Staaten
sollen sich demnach allgemein dazu verpflichten, gemeinsam mit anderen
Schaden von der Internetinfrastruktur abzuhalten. Sie müssten auch
angemessene Maßnahmen treffen, Internetnutzer ihres Landes von der
Beteiligung an Cyber-Attacken und anderen Formen böswilliger Aktionen
abzuhalten, "die einen erheblichen, grenzüberschreitenden Einfluss für
die Stabilität, Sicherheit und Widerstandsfähigkeit und die
Internetfreiheiten eines anderen Staates bedeuten würden". Regierungen
sollten dafür haftbar gemacht werden.
Dagegen meldete sich sofort heftige Kritik rechtlicher Art bis hin zu
der Befürchtung, die neuen Pflichten würden bevorzugt neue
Überwachungsmechanismen nach sich ziehen.

17.09.2010:
Gabi Dreo Rodosek, Professorin für Kommunikationssysteme und
Internet-Dienste an der Universität der Bundeswehr München:
Wenn kritische Infrastruktur angegriffen wird, müssen militärische
Ressourcen zum Schutz der zivilen Infrastruktur genutzt werden
(14).
|