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Jeschke, Cusanus Spiel
Lukianenko,
Spektrum
Palmer, Zone
John Scalzi
Cory Doctorow
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In den
letzten drei Jahren sind mir nicht nur Werke von den Altmeistern wie
Wolfgang Jeschke,
Herbert W. Franke und den
Strugatzki-Brüdern aufgefallen, sondern eine Reihe neuer Autoren,
die vor allem zu erzählen und mitreißen wissen.
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Anfang widme ich jedoch dem Altmeister Jeschke
(1) und seinem genialen Alterswerk: Das Cusanus Spiel
(2).
Die Stimmen bei
teilen
meine Begeisterung nicht und finden das Buch zu langatmig und
detailversessen. In der Tat verknüpft Jeschke mit dem Hauptstrang einige
Kurzgeschichten, die selbständig erscheinen könnten, hier aber das
Stimmungsbild abrunden und ergänzen. Im Hauptstrang geht es darum, dass
Leute in die Vergangenheit reisen, um die Erbanlagen von Pflanzen zu
sammeln, die in der Gegenwart der Erzählung einer Katastrophe anheim
gefallen sind. Sie leben in der Vergangenheit und müssen mit deren
Umständen und Gefahren klarkommen, wobei ich mich nicht abschließend
entschlossen habe, ob Jeschkes Vergangenheit oder Gegenwart gefährlicher
ist. Seine Hauptfigur erlangt jedenfalls am Ende eine Bewegungsfreiheit,
die sie ohne technische Unterstützung entlang den Solitonen reisen
lässt.
Solitonen sind Zeitwellen (S. 250, 252), die von den Menschen zwar
nicht gesteuert, wohl aber als Trittbrettfahrer genutzt werden können.
Sie führen in die Vergangenheit und in die Zukunft, in die es den
Menschen jedoch verwehrt ist, zu reisen. Interessant ist, dass Jeschke
zwar Veränderungen und alternative Welten zulässt, nicht aber ein
ausuferndes Multiversum
(3).
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Dadurch entstehen zwar durch alternative
Entscheidungen unterschiedene Welten, so wie es die Quantentheorie
verlangt, die jedoch durch den Hauptstrang der Geschichte wieder
verbunden und "ausgebürstet" werden (S. 311). Diese Annahme geht auf den
Physiker Hugh Everett zurück
(4)
und ist eine (anerkannte) Alternative zur Viele-Welten-Theorie der
klassischen Quantenmechanik. Sie ermöglicht es Jeschke, die Korrekturen
von Ereignissen in der nahen Vergangenheit durch Salamander zu
schildern. Sie können zwar die Vergangenheit verändern, aber nur wegen
solcher Ereignisse, die nicht den Hauptstrang der Geschichte
beeinträchtigen.
Zeitreisen sind ein heikles literarisches Thema, mit dem sich Jeschke
immer wieder befasst hat.
Die Everett-Interpretation ist ein Gedankenmodell, das Reisen in die
Vergangenheit nicht ausschließt. Ein zweites stammt von dem Mathematiker
Kurt Gödel, der die mathematischen Beschreibungen nach den
Gravitationsfeldgleichungen von Einstein entwickelte
(5).
Wenn sich das Universum insgesamt dreht, dann ermöglichen seine
Lösungen, dass man sich dadurch, dass man sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit
in die Zukunft bewegt, in der Vergangenheit wieder findet - und sie
natürlich auch verändern kann. Mehrere Romane von
Baxter
(6) gründen auf
diesem Modell.
Das dritte, jedenfalls nicht ganz und gar versponnene Gedankenmodell
für Zeitreisen basiert auf Wurmlöchern
(11).
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Lukianenko, Spektrum |
Palmer, Zone |
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Martin erhob sich ...
... berührte Irina, flickte das zerrissene Gewebe, belebte ihr Herz,
reinigte ihren Körper von Spaltungsprodukten. Ein Teil
der Neuronen
Bibliothek und dem ehemaligen Verwalter erklärt, dass die
Entschlüsselung der Namen in der Nekropole nicht produktiver sei als das
Wahrsagen mit Vogelknochen ...
... quetschte den Plasmawerfer zu einem akkuraten Würfel den er ...
... erschrak ...
"To The Soule" aus dem Album The Ultra Zone von 1999 intonierte,
sodass er sich nicht mehr beherrschen konnte - und sich das Stück live
anhörte ...
... warf er all das Dumme, Quälende, Destruktive fort, das ...
... schaute bei seinem Onkel vorbei, der vor einem im Sessel thronenden
Mann in Zivil stand und sich eifrig darüber ausließ, welche ...
um ihn herum flackerte, die Steine schmolz, alles zu verbrennen
trachtete ...
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Sergej Lukianenko
(12)
veröffentlicht seine Werke seit den achtziger Jahren in Russland und
erzielt inzwischen weltweit Rekordauflagen.
Links ist eine Textpassage aus dem Showdown seines Romans
"Spektrum" wiedergegeben
(13),
die chaotisch wirkt. Das ist ein genialer Kunstgriff, weil sein Held
Martin Dugin nach vielen überstandenen Gefahren plötzlich die Fähigkeit
erwirbt, sich frei von Raum und Zeit zu bewegen und die Welt zu
verändern. Ohne die Beschränkungen durch die Raumzeit wirken Handlungen
und Erkenntnisse wie gleichzeitig, überdreht und sprunghaft. Das hat
Lukianenko gut hingekriegt und ich musste die betreffenden Seiten
mehrmals lesen, um ihren Sinn zu erfassen.
Das Buch im übrigen ist sehr "russisch", tiefsinnig und
philosophisch, erreicht aber nicht die Tiefe der
jüngsten Werke von Boris Strugatzki. Dafür baut es mehr auf
Handlungen und wohl dosierten Überraschungen auf.
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Mit der "Zone" hat Philip Palmer seinen ersten Roman vorgestellt
(14).
Die Rezensenten bei
sind
gespaltener Meinung und kritisieren die langatmigen Monologe, die den
Fortschritt der Geschichte hemmen.
Als Schüler hat man mich wegen der "gebrochenen Perspektive im modernen
Roman" mit den Romanen von Alfred Döblin
(15)
und Heinrich Böll gequält
(16).
Dabei geht es um nichts anderes, als dass die Erzählerperspektive
ständig wechselt. Das verlangt vom Leser einen hohen Grad an
Konzentration, weil er immer wieder die Protagonisten mischen und
zuordnen muss.
Palmer geht einen ähnlichen, aber weniger anstrengenden Weg. Er
ordnet seine Protagonisten und lässt sie - teilweise in der Tat
langatmig - zu Wort kommen. Ich mag das nicht, wenn ein Autor nicht auf
den Punkt kommt. Bei Palmer hat mich das aber nicht dermaßen gestört,
wie die -Rezensenten.
Er entfaltet immer wieder Ideen-Feuerwerke, die einen unbändigen Spaß
bringen
(17),
und das in einer meistens düsteren und wenig hoffnungsfrohen Umgebung.
Palmer muss beobachtet werden!
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John Scalzi |
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Vier
Bücher von John Scalzi
(18)
sind von Heyne in sehr schneller Folge veröffentlicht worden. Ich habe
ihn bereits
einmal zitiert.
Außerirdische sind bösartig, kriegerisch und unkalkulierbar, das ist
Scalzis Grundannahme. Um mit ihnen fertig zu werden, brauchen die
Raumkolonien - die Erde, ihre Bevölkerung und ihre Regierung sind außen
vor - betagte Rekruten von der Heimatwelt, die körperlich und genetisch
aufgerüstet werden.
Scalzi macht daraus eine unvergleichliche Space-Opera mit großem
Lesespaß.
Eine Ausnahme sind die Geisterbrigaden. Sie bestehen aus dem Genmaterial
von Schon-Gestorbenen, die dann extrem aufgerüstet und modifiziert
werden.
Das klingt sehr marchialisch und ist es auch. Dennoch schafft es
Scalzi, die Außerirdischen zu vermenscheln und mit ihren inneren
Widersprüchen zu beschreiben.
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Scalzi bewirkt die Wiedergeburt der Space Opera, indem er große
Bewegungen und viel Action macht. Das macht Lesefreude - und man muss
nicht alle seine Kapriolen ernst nehmen. Scalzi schreibt eben über sex,
crime and war im zukünftigen Weltraum. Dabei bleibt er, was die
wissenschaftlichen Grundannahmen anbelangt, sehr zurückhaltend und
hausbackend.
Das ist echter Lesespaß.
Die "Androidenträume"
machen einen Szenenwechsel, wechseln aber nicht den grundlegenden
Rahmen.
Scalzis Protagonist beschützt eine Menschenfrau, deren Genmaterial zu
einem Fünftel von einer besonderen irdischen Schafrasse stammt, die
außerirdische Echsen exklusiv erworben haben und schlachten wollen.
Auch das ist echter Lesespaß.
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Cory Doctorow |
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Einen
haben wir noch, einen Kenner der aktuellen Dienste im Internet: Cory
Doctorow
(23).
Wozu
brauchen Sie einen Arzt, wenn Ihr (halbwegs) aktueller Körper- und
Befindlichkeitszustand als Backup gespeichert ist und wieder hergestellt
werden kann? Sie brauchen keine Therapie und keine Genesung. Ihr Körper
wird in dem letzten gesicherten Zustand rekonstruiert und die unscharfen
restlichen Erfahrungen können getrost vergessen bleiben.
Sie behandelt ein medizinischer Handwerker, der keine Ahnung von
Krankheiten und ihre Behandlung hat. Er stellt Sie wieder her.
Das ist
der Plot von Backup und Doctorow schreibt noch viel Handlung drum herum.
Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen!
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Beim
Upload widmet sich Doctorow verstärkt den Subkulturen im Internet, die
auch neue Identitäten in dem Sinne schaffen, dass sich eigentlich fremde
Personen gegenseitig unterstützen, aus fragilen Gründen helfen oder auch
irrational bekämpfen. Der Hintergrund ist die Ökonomie - auch das
erkennt Doctorow.
Palmer
dankt Doctorow im Abspann, also müssen beide beobachtet werden.
Die hier
angesprochenen Autoren haben mich in der jüngeren Zeit beschäftigt. Es
kommen noch einige andere hinzu ... später.
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Anmerkungen |
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(1)
Wolfgang Jeschke
(2)
Wolfgang Jeschke, Das Cusanus Spiel, Droemer 2005
Inhalt bei 
Bestellung bei  
(3)
Parallelwelt
(4)
Hugh Everett
Viele-Welten-Interpretation
(5)
Paul Davies, Do-it-yourself-Zeitreise,
special
Kosmologie, 02/2007, S.124
(6)
(7) und
(8)
(7)
Stephen Baxter, Das Multiversum 1. Zeit, Heyne 2002
Bestellung bei
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(8)
Stephen Baxter,Transzendenz, Heyne 2006
Bestellung bei
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(9)
Carl Sagan, Contact, Droemer 1986
antiquarisch erhältlich bei

(10)
Kip S. Thorne, Gekrümmter Raum und verbogene Zeit. Einsteins
Vermächtnis, Droemer 1994
antiquarisch erhältlich bei

(11)
Literarisch hervorragend umgesetzt von Carl Sagan [
(9)] und wissenschaftlich entwickelt von Kip S. Thorne [
(10)] in seinem grandiosen Werk über Schwarze und Wurmlöcher.
(12)
Sergei Wassiljewitsch Lukjanenko
(13)
Sergej Lukianenko, Spektrum, Heyne 2007; Zitat von S.
686.
Inhalt bei 
Bestellung bei
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(14)
Philip Palmer, Zone. Irgendetwas ist nicht in Ordnung
mit dem Universum ..., Heyne 2008
Inhalt bei 
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(15)
Alfred Döblin,
Berlin Alexanderplatz
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(16)
Heinrich Böll,
Gruppenbild mit Dame
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Genial ist hingegen die
Die verlorene Ehre der Katharina Blum, ebenso
genial, aber anders verfilmt von Schlöndorff und Trotta.
(17)
Damit erinnert Palmer an
Douglas Adams'
Anhalter-Serie. Eine Metapher, die der
42 gleich kommt, hat Palmer allerdings noch nicht geschaffen.
(18)
John Scalzi
(19)
John Scalzi, Krieg der Klone, Heyne 2007
Bestellung bei
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(20)
John Scalzi, Geisterbrigaden, Heyne 2007
Bestellung bei  
(21)
John Scalzi, Die letzte Kolonie, Heyne 2008
Bestellung bei
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(22)
John Scalzi, Androidenträume, Heyne 2008
Bestellung bei
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(23)
Cory Doctorow
(24)
Cory Doctorow, Backup, Heyne 2007
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(25)
Cory Doctorow, Upload, Heyne 2008
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Cyberfahnder |
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© Dieter Kochheim,
11.03.2018 |