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Zeitgeschichte der Siebziger Jahre vor Gericht |
Verena Becker: Über eine falsche Gelegenheit und einen falschen
Ort |
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Tatort, |
Vor dem
Oberlandesgericht Stuttgart wird der Prozess gegen Verena Becker wegen
des Vorwurfes des Mordes an Siegfried Buback, seinem Fahrer Wolfgang
Göbel und dem Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft geführt, dem
Georg Wurster
(2). |
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Am 7. April 1977 wurden sie von Mitgliedern der Roten Armee Fraktion
ermordet.
Sie waren auf dem Weg von Bubacks Wohnung in Neureut zum
Bundesgerichtshof. Der Mercedes wartete an der Kreuzung Linkenheimer
Landstraße ... und Moltkestraße ... an einer roten Ampel. Rechts neben
ihnen hielt ein Motorrad ... mit zwei Personen, die
olivgrüne Integralhelme trugen. Ohne von der Sitzbank abzusteigen,
feuerte eine der Personen aus einem halbautomatischen Gewehr vom Typ HK
43 ... fünfzehn Schüsse auf den Mercedes ab. Alle drei Männer im Pkw
wurden getroffen. ... Buback und Göbel starben noch am Tatort, Wurster
erlag am 13. April seinen Verletzungen.
(3) Verena Becker war im Mai 1977 in Singen festgenommen worden, nach einem Schusswechsel mit der Polizei. ... Sie und ihr Begleiter Günther Sonnenberg trugen die Buback-Tatwaffe aus Karlsruhe bei sich. Heute steht fest, dass Becker die Bekennerschreiben abgeschickt hat, die nach dem Mord an Buback verbreitet wurden. (4) Ende 1977 wurde Becker wegen der Schießerei im Zusammenhang mit ihrer Festnahme zu lebenslanger Haft verurteilt und nach 12 Jahren Haft begnadigt. Seit Ende 1989 ist sie auf freiem Fuß und lebt unter einem neuen Namen (5).
Im August
2009 wurde Verena Becker erneut festgenommen und inhaftiert und zwar
wegen des Vorwurfs des Mordes an Generalbundesanwalt Buback und seinen
Begleitern. Ende 2009 wurde der Haftbefehl vom BGH aufgehoben
(6). Aufgrund
einer Anklage der Bundesanwaltschaft aus dem April 2010 verhandelt jetzt
das OLG Stuttgart seit September 2010 gegen Becker
in einem ausgelagerten Gerichtssaal in der JVA Stuttgart-Stammheim
(7). |
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Verena Becker, Screenshot aus dem Video bei Welt online (10) Die 20-minütige Aussage von Verena Becker hat nicht eine Winzigkeit zur Wahrheitsfindung beigetragen. Die Angeklagte und weitere Zeugen halten eisern an der mafia-artigen Schweigepflicht der RAF fest. (Kellerhoff) |
Verena Becker soll sich schon Anfang der 1980er Jahre gegenüber dem Verfassungsschutz geäußert und das frühere RAF-Mitglied Stefan Wisniewski als Todesschützen belastet haben (8). In dem neuen Verfahren schwieg sie zunächst und verlas erst am 89. Verhandlungstag, dem 14.05.2012, eine schriftlich vorbereitete Erklärung (9). Nach ihrer Darstellung ist Becker bis zum Tag ihrer Festnahme nie in Karlsruhe gewesen, also auch nicht am 7. April. Sie sei erst am 8. April mit einem zypriotischen Pass, ausgestellt auf den Namen Stella Ratzon, aus dem Nahen Osten – "ich glaube über Jugoslawien" – nach Rom gereist, wo sie aus der Presse von dem Anschlag erfahren haben will. Wann sie nach Deutschland weiterreiste, sagt sie nicht. Sie habe die Mitglieder des Kommandos getroffen, die Buback erschossen. Wer das war, auch das sagt Becker nicht. Sie habe die Bekennerschreiben in Umschläge gesteckt, dies sei ihr Beitrag gewesen. An den Umschlägen fanden sich später DNA-Spuren von ihr. Ihr nächster Auftrag sei gewesen, die Tatwaffe, ein Schnellfeuergewehr HK 43, in ein Depot im Ausland zu bringen. Dabei wurde sie in Singen festgenommen. Von wem hatte sie die Waffe und den Auftrag? Fragen werde sie nicht beantworten, stellten ihre Verteidiger klar. (11) Die Aussagen, die Verena Becker ... von Papier abgelesen hat, waren leicht zu verstehen. Ein einfacher Satzbau, eine einfache Wortwahl. Sie wirken authentisch, anschaulich. Sie klingen im ersten Moment so, als stammten die Aussagen in der Form, wie sie sie vorgelesen hat, tatsächlich von ihr. (12)
Ein
weiteres Beispiel liefert Marcus Klöckner
(16),
der eine geschichtliche Aufarbeitung verlangt, die auch die Kontakte von
RAF-Mitgliedern zum Verfassungsschutz und zur Stasi aufklärt. Bei aller
Berechtigung des Anliegens: Dazu ist der Prozess gegen Verena Becker
nicht da und nicht geeignet. |
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praktischer Rechtsstaat | ||||
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Das Gericht hat den Auftrag, die Tat aufzuklären und nicht die allgemeine Geschichte drumherum. Es gibt Wechselwirkungen, die bedeutsam sind und deshalb auch zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden können, aber eben nur in dem Umfang, wie sie über die Motive und Lebensumstände des Täters zur Tatzeit Auskunft geben. Der Angeklagte muss daran nicht mitwirken und darf schweigen ( § 243 Abs. 5 S. 1 StPO). Die Wahrheitspflicht betrifft nur Zeugen und Sachverständige ( § 153 StGB), aber auch die dürfen schweigen, wenn sie sich oder nahe Angehörige durch eine wahrheitsgemäße Aussage belasten würden ( § 55 Abs. 1 StPO). Das geht so weit, dass auch ein weitläufiger Zusammenhang zur Tat dazu führt, dass der Zeuge ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht hat (17). Insoweit ist die Entrüstung über das Schweigen der Zeugen aus der RAF und der Angeklagten Becker unangebracht. Es ist legales Verhalten und das gehört zum Rechtsstaat dazu. Es schweigen aber nicht nur die Zeugen aus dem Umfeld der RAF, sondern auch viele Beamte, die mit dem Fall in Verbindung stehen: Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Ludwig-Holger Pfahls, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Alfred H., Kriminalhauptkommissar beim BKA, seit 2007 mit den wieder aufgenommenen Ermittlungen zum Fall Buback betraut: eingeschränkte Aussagegenehmigung. Ein Zeuge, der Informationen für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschafft hat, tritt gar gleich unter einem Fantasienamen "Manfred Sundberg" auf. Auch er: eingeschränkte Aussagegenehmigung (18). Die Pflicht dazu entstammt dem § 96 StPO, wonach die obersten Landes- und Bundesbehörden Sperrerklärungen gegen die Akteneinsicht geben und die Aussagegenehmigungen für beamtete Zeugen beschränken dürfen. Auch die Sperrerklärungen sind beim Verwaltungsgericht angreifbar, wobei das nur der Angeklagte darf (19).
Ob die
Sperrerklärungen immer sinnvoll sind, ist eine andere Frage. Ärgerlich
sind sie allemal, weil sie allen Prozessbeteiligten den vollen Einblick
in das Umfeld der Ermittlungen verwehren. Aber auch das ist Rechtsstaat
(20). |
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verblassende Beweise | ||||
Verena Becker soll gesagt haben, sie habe die Mitglieder des Kommandos getroffen, die Buback erschossen. Selbst wenn sie sie genannt hätte, bliebe sie eine Zeugin vom Hörensagen, auf deren Aussage alleine keine Verurteilung gestützt werden kann (21). Was wäre, wenn alle Zeugen umfassend ausgesagt hätten? Erinnerungen verblassen und je länger Vorkommnisse zurück liegen, desto mehr bestehen sie aus Fragmenten, die falsch räumlich und zeitlich verbunden sein können. Können die Zeugen ihre Aussage mit Vermerken oder anderen Dokumenten unterlegen und damit ihre Erinnerung auffrischen, gewinnt ihre Aussage an Qualität. Auch dann ist zu fragen, wann und unter welchen Umständen die Aufzeichnung gemacht wurde und ob sie wahr ist. Das allmähliche Vergessen ist kein Vorwurf, sondern ein natürlicher Prozess, der bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden muss. Die Skepsis zeichnet zudem den Profi aus. Was ist mit anderen Beweismitteln? Der Mord vor 35 Jahren war spektakulär und lässt erwarten, dass alle seinerzeit modernen Mittel der Kriminaltechnik eingesetzt wurden. Der strittige Gipsabdruck von einer abgelegenen Fußspur belegt das (22). Auch körperliche Beweismittel zerfallen mit der Zeit oder verlieren durch Umwelteinflüsse an Wert. Das soll nicht entschuldigen, dass bestimmte Beweismittel nach 35 Jahren überhaupt nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch das passiert gelegentlich. Die meisten Akten werden bereits nach 5 Jahren vernichtet, weil dann Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Doch wie weit war die Kriminaltechnik seinerzeit? Der genetische Fingerabdruck war noch kein Instrument und andere technische Mittel sind seither stark verfeinert worden. Wenn eine Beweismethode noch nicht bekannt oder verbreitet ist, kann der Kriminaltechniker auch keine entsprechenden Spuren sichern. Mehr noch als andere Beweismittel verblassen technische Aufzeichnungen. Das zeigt sich besonders bei Tonaufnahmen, deren Trägermaterial (Magnetbänder) zermürbt und unbrauchbar werden oder entsprechende Abspielgeräte schlicht fehlen.
Die
Beispiele zeigen nur ein paar der Widrigkeiten, mit denen die
Strafverfolgung wegen lange zurückliegender Taten umgehen muss. |
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Aufklärung der Geschichte der Siebziger und Achtziger Jahre | ||||
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Sicherlich wäre es spannend, die Geschichte der RAF, die Rolle der Geheimdienste und der Staatsschutz-Polizei in jenen Jahren aufzuklären und das nicht zuletzt deshalb, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Das ist aber nicht die Aufgabe der angeklagten Verena Becker, die sich zunächst dagegen wehren darf, wegen des Mordes an Siegfried Buback verurteilt und langjährig inhaftiert zu werden. Sie darf auch darüber schweigen, wer dem Kommando angehörte, das die Tat ausführte. Sie wird weiterhin schweigen, weil ihr auch nach einem Freispruch eine Wiederaufnahme des Verfahrens drohen kann ( § 362 Nr. 4 StPO). Im Interesse der Aufklärung der Geschichte kann man nur hoffen, dass die gesperrten Informationen wirklich so brisant und so vollständig sind, dass sie die Einzelheiten klären. Auf sie werden wir sicherlich noch einige Jahrzehnte warten müssen. Die Forderung nach der Wahrheit und nach der Aufklärung der Geschichte bleibt berechtigt. Sie richtet sich aber an die beteiligten Bundesbehörden, die einen entsprechenden Forschungsauftrag finanzieren und mit ihrem ungesperrten Material unterstützen müssten. Das steht noch aus und wird ebenfalls noch auf sich warten lassen. Das Fazit klingt bitter: Wo es um Mord geht, bleibt die geschriebene Geschichte auf der Strecke, wenn sich die Täter nicht selber offenbaren oder durch Indiskretion gesperrtes Material an die Öffentlichkeit gerät. In brisanten Situationen wie in den Siebziger und Achtziger Jahren blieb den Staatsschutz-Diensten wohl nichts anderes übrig, als die Insider zur Offenbarung ihrer Informationen zu bewegen und im Gegenzug Vertraulichkeit zu garantieren. Das hat zur Folge, dass sowohl die Informanten wie auch ihre Abschöpfer altern und sterben, ohne dass man ihr schriftliches Erbe anhand ihrer Erinnerungen überprüfen kann. So kann man nur hoffen, dass seinerzeit professionell und korrekt gearbeitet wurde. Irgendwann wird das Material zur Verfügung stehen. Ein weiteres Fazit: Mit der Verfolgungsverjährung zeigt der Rechtsstaat auch die Größe, einen Schlussstrich zu ziehen. In schweren Fällen müssen dazu mindestens 20 Jahre und bis zu 40 Jahre ins Land gegangen sein. Diese Gnade schließt er bei Mord aus und das ist richtig so. Verena Becker will seit den Achtziger Jahren nichts mehr mit der RAF zu tun gehabt haben wollen und wenn sie seinerzeit dem Verfassungsschutz Rede und Antwort gestanden hat, mag das sogar stimmen. Mit ihrer Vergangenheit muss sie noch heute leben. Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen, zumal sie - da ist dem Bundesanwalt Hemberger und dem Michael Buback Recht zu geben - Mörder deckt. Über ihre eigene Tatbeteiligung lässt sich spekulieren und auch darüber, inwieweit sie in die Vorbereitungen des Mordes verstrickt war. Noch unverbindliche Sondierungen rechtfertigen keine Beteiligung gemäß § 30 StGB und die Nichtanzeige geplanter Straftaten ist ein selbständiges und verjährtes Delikt ( § 138 StGB). Ihre Begünstigungen nach der Tat erfolgten nach ihrer Beendigung und waren deshalb keine Beihilfe.
Mit ihrer Vergangenheit und den Folgen ihrer Prozessstrategie muss
Verena Becker selber klar kommen. Der Rechtsstaat gewährt ihr die
aufgezeigten Rechte und darin darf sich sein Entgegenkommen erschöpfen. |
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Anmerkungen | ||||
(2) Siehe zuletzt: das menschliche Bedürfnis der Verena B., 13.05.2012 (3) Siegfried Buback. Ermordung (4) Ebenda (1) (6) BGH, Beschluss vom 23.12.2009 - 1 BJs 26/77-5 -StB 51/09 (7) Ebenda (5) (8) Wisniewski soll Buback-Mörder sein, Spiegel online 21.04.2007 (9) Siehe zum Beispiel: Sven Felix Kellerhoff, Das wortreiche Schweigen der Ex-RAF-Frau, Welt online 14.05.2012 (10) Ebenda (9) (11) Schmider, Ebenda (1) (12) Marcus Klöckner, Wenn eine Ex-Terroristin und ein Staat gemeinsam auf halbem Weg stehen bleiben, Telepolis 19.05.2012 (13) Ebenda (9) (14) Ebenda (1) (15) Ebenda (9) (16) Ebenda (12)
(17)
Aussageverweigerung und Beugehaft, 11.09.2008; (18) Ebenda (12) (19) Instruktiv: BVerwG, Beschluss vom 28.03.2006 - 20 F 1.05 (20 PKH 2.05). (20) BGH, Beschluss vom 17. August 2004 - 1 StR 315/04 (21) gehörtes Hörensagen und gesperrte Beweise, 08.08.2009 |
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Cyberfahnder | ||||
© Dieter Kochheim, 11.03.2018 |