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August 2010 |
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BVerfG: Bezifferter Gefährdungsschaden |
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Die Entscheidung setzt sich tief mit der Strafvorschrift zur Untreue auseinander ( § 266 StGB). Sie ist sehr allgemein gefasst und sagt in aller Kürze aus, dass derjenige bestraft wird, der unter Verletzung einer besonderen Treuepflicht dem Betreuten Nachteil zufügt. Das BVerfG bleibt dabei, dass die Strafvorschrift trotz ihrer allgemeinen Fassung verfassungsgemäß ist und die Fachgerichtsbarkeit gehalten ist, die Konturen, Grenzen und Einzelheiten herauszuarbeiten. Insoweit untersucht das BVerfG die Rechtsprechung des BGH und stellt fest, dass er diese Aufgabe erfüllt hat. Nur wegen des "Nachteils" sieht das BVerfG Anlass zum Einschreiten.
"Nachteil" und "Schaden" werden von ihm - der Fachrechtsprechung folgend -
gleich behandelt. Im Gegensatz zum Betrug (
§ 263 StGB) hat der Gesetzgeber bei der Untreue auf eine
Strafbarkeit im Versuchsstadium verzichtet. Das erfordert im Hinblick
auf den Schaden, dass ein solcher tatsächlich durch die Handlung oder
das pflichtwidrige Unterlassen des Täters eingetreten ist. |
Rechtsprechung zum Gefährdungsschaden Entscheidungsgegenstände schwarze Kassen außerordentliche Provisionen ungesicherte Kredite kein abstrakter Gefährdungsschaden vorsichtige Schätzung Fazit Damit wendet sich das BVerfG nicht gegen den Begriff der schadensgleichen Vermögensgefährdung (gleichzusetzen mit dem Gefährdungsschaden) insgesamt, sondern nur in einer besonderen Ausprägung: Es bedarf immer der Feststellung eines bezifferten Schadens. Allein aus einer - auch erheblichen - Pflichtwidrigkeit, die einen Schaden erwarten, nicht aber beziffern lässt, darf keine Bestrafung abgeleitet werden. Die Entscheidung wird die Diskussion um die Konturen des vermögensstrafrechtlichen Schadensbegriffs fördern, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist. Zwei Vorstöße des BGH aus dem Sommer 2009 führen zu einer wirtschaftlichen Betrachtung des Schadensbegriffs und erweitern ihn zum Beispiel um Wertberichtigungen und Aufwände für die Rechtsverfolgung und Realisierung von Forderungen. Letztere sind Folgeschäden, die bislang nur mittelbar in die Schadensbestimmung einbezogen wurden.
Dort, wo es um schwer bestimmbare Schadensereignisse geht, wird die
Strafverfolgung aufwändiger und teurer werden, weil zunehmend
Sachverständige zu Wort kommen müssen. |
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Rechtsprechung zum Gefährdungsschaden | Entscheidungsgegenstände | |||
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Zwei Senate des BGH haben im Sommer 2009 die Diskussion aufgenommen und den Gefährdungsschaden als selbständige Form des Schadens beim Betrug in Frage gestellt (6). Der erste Senat bezieht sich dabei auf ein Zitat aus der Rechtslehre: Zwischen Schaden (Verlust) und Gefährdung (Beeinträchtigung) besteht bei wirtschaftlicher Betrachtung also kein qualitativer sondern nur ein quantitativer Unterschied (7). Das bezieht der dritte Senat auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses (8), wobei eine Lebensversicherung Leistungen zusagt und der Täter von vornherein die Absicht verfolgt, mit gefälschten Todesbescheinigungen alsbald diese Leistungen zu ertrügen. Dadurch entstehe eine Erhöhung der Leistungswahrscheinlichkeit, mit der die Kalkulationsgrundlagen der Versicherung unterlaufen werden (9). 06.01.2012: Diesen Teil der Entscheidung hat das BVerfG als tatbestandsausweitende Überdehnung der Strafbarkeit kassiert (9a).
Über die
weiteren Einzelheiten hat der Cyberfahnder im Januar 2010 berichtet:
Schaden und schadensgleiche Vermögensgefährdung. |
schwarze Kassen für Bestechungsgelder bei der Siemens AG außerordentliche Prämien für die Angestellten einer Betriebskrankenkasse ungesicherte Kredite der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG für die Modernisierung von Plattenbauten (10) In den ersten beiden Fällen betrachtet das BVerfG die Verurteilungen als hinreichend bestimmt. Nur im dritten Fall, in dem das Landgericht Berlin auf den Gefährdungsschaden abgestellt hat, hat das BVerfG das Tatsachenurteil und das bestätigende Urteil des BGH aufgehoben (11). Das BVerfG setzt sich zunächst umfassend damit auseinander, in welchem Maß der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden darf, dass die Fachgerichte unbestimmte Rechtsbegriffe präzisieren und begrenzen müssen und in welchen Fällen das BVerfG zum Einschreiten gefordert ist. Sein Ergebnis ist, dass der Untreuetatbestand als solcher dem Bestimmtheitsgebot ( Art. 103 Abs. 2 GG) noch entspricht und die Fachgerichte seine Grenzen im Wesentlichen abgesteckt haben (12).
Sodann
folgen weite Ausführungen über den Inhalt des Untreuetatbestandes und
des mit ihm verbundenen Schadensbegriffes mit dem Ergebnis, dass sichere
Feststellungen dazu getroffen werden müssen, dass ein Schaden und in
welcher Höhe er tatsächlich eingetreten ist
(13). |
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schwarze Kassen | außerordentliche Provisionen | |||
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Nach seiner weiteren Auseinandersetzung bestätigt das BVerfG zunächst die gefestigte Fachrechtsprechung zur Vereitelung von Gewinnaussichten, in denen das Handeln des Täters dazu führt, dass sich konkrete, gesicherte Aussichten auf Vermögensmehrung - das Schrifttum spricht von „Anwartschaften“ oder „Exspektanzen“ - nicht realisieren (14). Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Täter bereits bestehende schwarze Kassen im Ausland gegenüber dem Vorstand verschweigt oder einen vorteilhaften Abschluss dadurch vereitelt, dass er ihn an einen Dritten vergibt, von dem er sich eine Zuwendung versprechen lässt, die natürlich in die Preisbildung einfließt. Bestechlichkeit nennt man das wohl. Im Zusammenhang mit dem "entgangenen Gewinn" wendet sich das BVerfG auch gegen eine rein handelsrechtliche Bewertung der Vermögensbilanz, weil sie strikt das Vorsichtsprinzip umsetzt ( § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB). Es zwingt im Interesse des Verkehrsschutzes im Zweifel zu einer Unterbewertung von Vermögenspositionen und weicht damit von einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise gerade ab (15). Die fraglichen schwarzen Kassen waren unter fremden Firmen und
Stiftungen eingerichtet, so dass die Siemens AG unter keinem rechtlichen
Gesichtspunkt auf sie zugreifen konnte. Der Schaden beträgt in diesen
Fällen die vollen Summen der schwarzen Kassen. |
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ungesicherte Kredite | ||||
Im Folgenden geht das Gericht auf die Bewertung des Schadens ein,
soweit er aus bilanziellen Bewertungsvorschriften abgeleitet wird. Dem
widerspricht das BVerfG im Grundsatz nicht
(19).
Die Gefahr der Überdehnung des Schadensbegriffes sieht das BVerfG
jedenfalls dann, wenn die Rechtsprechung für einen Vermögensnachteil
allein abstrakte Regelwidrigkeiten ausreichen lässt, ohne dass der durch
sie ausgelöste Schaden nicht seiner Mindesthöhe nach
festgestellt wird
(20).
Dazu sind die anerkannten Bewertungsverfahren und
unvermeidlich verbleibenden Prognose- und Beurteilungsspielräume ...
durch vorsichtige Schätzung auszufüllen
(21). |
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kein abstrakter Gefährdungsschaden | ||||
Erfolgsdelikte beschränken sich auf die bösen Folgen des strafbaren Handelns, Gefährdungsdelikte betrachten das Handeln ungeachtet der bereits eingetretenen Folgen. Den Obergerichten ist Recht darin zu geben, dass die Strafbarkeit eines nur abstrakten Gefährdungsschaden den Untreuetatbestand überdehnt. Sie führt zur Bestrafung von Handlungsunrecht. Das darf der Gesetzgeber durch Gesetz anordnen, die Gerichtsbarkeit aber nicht im Wege der Auslegung aus unbestimmten Rechtsbegriffen wie dem "Nachteil" in § 266 StGB entwickeln. Die neue Rechtsprechung hat jedoch auch neuen Streiten Tür und Tor geöffnet, weil jetzt über die Qualität von "Schaden" und "Nachteil" gestritten werden muss. Das wird zunächst den entgangenen Gewinn bei Geschäftsabschlüssen betreffen. Das betrifft auch das Recht zur Haushaltsuntreue. Muss ein für Vertragsabschlüsse Zuständiger immer das günstigste Angebot annehmen oder darf er die Zuverlässigkeit eines Anbieters, die er in der Vergangenheit bewiesen hat, oder seine Bestandsfähigkeit im Hinblick auf die Gewährleistung oder Folgeaufträge als wirtschaftliche Wertfaktoren berücksichtigen? Nach Maßgabe des Vergaberechts ist das grundsätzlich zulässig, so dass es an der Pflichtwidrigkeit mangelt. Kein bezifferbarer Schaden dürfte hingegen eintreten, wenn eine Einrichtung,
die dem öffentlichen Haushaltsrecht unterliegt, eine Ausgabe in einen
Titel bucht, der für sie nicht bestimmt ist, wenn beide Titel der
derselben Haushaltsgruppe angehören
(22). |
Besonders schwierig wird die Schadensfrage bei Risikogeschäften zu klären sein. Es liegt in ihrer Natur, dass sie schief gehen können. Bei untreuen Einzelgeschäften - wie der Plattenbaufinanzierung - sind die Schwierigkeiten geringer. Wie gehabt ist zunächst nach der Pflichtwidrigkeit zu fragen, also danach, ob die gesetzlichen Vorschriften, die allgemeinen Regeln des Handelsverkehrs und die unternehmensinternen Vorschriften eingehalten wurden. Steht die Rechtswidrigkeit fest, dann kann der Verlust durch das isolierte Geschäft beziffert werden.
Bei
Handlungen, die sich auf eine Geschäftssparte, auf den Unternehmenswert
oder auf Marktfaktoren beziehen, wird die Schadensberechnung ganz
schwierig. Auch hier ist zunächst nach der Rechtswidrigkeit und dann
nach der Schadenskausalität zu fragen. Dabei stellt sich nämlich die
Frage, welchen Einfluss die untreue Handlung neben anderen
wertmindernden Faktoren hat, zum Beispiel in einem insgesamt maroden
Aktien- und Wertpapiermarkt oder neben anderen unpopulären
Unternehmensentscheidungen
(23). |
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vorsichtige Schätzung | ||||
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Das profitorientierte Unternehmen muss das eingegangene Risiko selber tragen. Geht das Risikogeschäft schief, stellt sich nur die Frage danach, ob der Mitarbeiter im Rahmen seiner Kompetenzen gehandelt hat, also nach der Pflichtwidrigkeit. Erfolglosigkeit als solche mag sich in seiner Vergütung oder in einer zivilrechtlichen Einstandspflicht (Garantie) niederschlagen, nicht aber darin, dass er auch strafrechtlich haftet. Eine Pflichtwidrigkeit vorausgesetzt stellt sich bei Risikogeschäften die Frage nach der Bewertung besonders. Die kaufmännischen Bewertungsvorschriften folgen tatsächlich dem
Vorsichtsprinzip und dienen, wie das BVerfG richtig sagt, der
Verkehrssicherheit. Sie lassen Raum für stille Reserven, über die, wenn
sie sich wirklich einmal realisieren lassen, der Kaufmann, seine
Gläubiger und die Steuerverwaltung freuen dürfen. |
Das steht im Widerspruch zu der neueren Rechtsprechung des BGH. Diese deutet nämlich an, dass die handels- und steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften anzuwenden sind. Damit würde in Kauf genommen werden, dass der Täter benachteiligt wird, weil die Vorsicht nicht ihm, sondern nur dem geschädigten Vermögen zu Gute käme. Dem BGH folgt auch das BVerfG, indem es die handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften der Schadensermittlung zugrunde legt (siehe Kästen links). Die Rechtspraxis und die Rechtsprechung werden sich mit den Einzelheiten auseinandersetzen müssen |
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Fazit | ||||
Nowaks Kritik in geht fehl. Dort, wo die Schäden einfach zu beziffern sind - und das sind die meisten Fälle, ändert sich nichts an der Strafbarkeit und an der Justizpraxis. Nur wenn es um mehr abstrakte Gefährdungsschäden geht, wird ein Mehraufwand zu befürchten sein, der dem Gesetz und nicht etwa einer Marotte des BVerfG geschuldet ist. Die Kritik bestätigt hingegen die allgemeine Tendenz zur
traditionellen Neiddebatte in der besonderen Ausprägung, dass "die da
oben" sowieso machen können was sie wollen, ohne dafür einstehen zu
müssen. Darin ist ein wahrer Kern, der jedoch nicht die ausführenden
Personen trifft, sondern die, die kurzfristigen oder unmäßigen Profit
einstreichen wollen und dazu unwägbare Risiken zulassen und fordern. |
Soweit der Gefährdungsschaden auf den Prüfstand gestellt wird, ist das über kurz oder lang sowieso zu erwarten gewesen. Die Ausführungen des BVerfG sind richtungsweisend und nachvollziehbar. Unausgesprochen enthalten sie auch die Aufforderung an den
Gesetzgeber, sich die Frage nach der Pflichtwidrigkeit im Zusammenhang
mit Risikogeschäften zu stellen. Er hat es in der Hand, durch Gesetz
Handlungsunrecht ungeachtet eines realisierten Schadens zu bestimmen. Weitere Einzelheiten: |
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Anmerkungen | ||||
(2) Schaden und schadensgleiche Vermögensgefährdung, 31.01.2010 (3) BGH, Urteil vom 29.08.2008 - 2 StR 587/07 (4) BVerfG, Beschluss vom 10.03.2009 - 2 BvR 1980/07
(5)
Ebenda
(4), Leitsatz 6.
(6)
Der Begriff des Schadens ist beim Betrug und bei der Untreue gleich; (7) BGH, Beschluss vom 18.02.2009 - 1 StR 731/08, Rn 12. (8) BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08 (9) Kritik von: Jochen Thielmann, Andrea Groß-Bölting, Die "signifikante Erhöhung der Leistungswahrscheinlichkeit" als Vermögensschaden i.S.d. § 263 StGB, hrr-strafrecht Januar 2010. (9a) BVerfG, Beschluss vom 07.11.2011 - 2 BvR 2500/09, 1857/10, Rn 162 ff
(10)
Verständliche Zusammenfassung:
BGH,
Verfassungsbeschwerden gegen Verurteilung wegen Untreue
teilweise erfolgreich, Presseerklärung vom 11.08.2010. |
(12) (2), Rn. 77 bis 84; siehe auch den Auszug: BVerfG, Ausführungen zum Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (Lesehilfe). (13) (1), Rn. 85 bis 115; Zitat im Kasten oben links Mitte: Rn. 114; siehe auch den Auszug: Ausführungen zum Untreuetatbestand (Lesehilfe). (14) (1), Rn. 120. (15) (1), Rn. 123. (16) (1), Rn. 128. (17) (1), Rn. 131. (18) (1), Rn. 134. (19) (1), Rn. 140 bis 146. (20) (1), Rn. 149.
(21)
(1), Rn. 151. |
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(23) Ich denke dabei an das verkorkste Betriebsklima bei der France Télécom ( Selbstmordserie, 13.09.2009), bei den Datenskandalen der Deutschen Bahn (noch freundlich: Mitarbeiterdaten und Korruption, 31.01.2009; nicht mehr freundlich: viel Feind, viel Ehr, 03.02.2009) oder an die kleinen Schweinereien ( fast unschuldig, 26.08.2008).
(26)
Peter Nowak, Wann werden Manager einer Bank untreu?
11.08.2010 |
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Cyberfahnder | ||||
© Dieter Kochheim, 11.03.2018 |