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Juli 2009
19.07.2009 E-Mail
     
zurück zum Verweis zur nächsten Überschrift Beschlagnahme von E-Mails
 

 

  Die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers sind am Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG zu messen. §§ 94 ff. StPO genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an eine gesetzliche Ermächtigung für solche Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis zu stellen sind. [Leitsatz zu (2)]
 
 

 
Nachdem sich der BGH (1) zur Beschlagnahme von E-Mails geäußert hat und verlangt, dass die besonderen Voraussetzungen der Postbeschlagnahme gemäß § 99 StPO vorliegen müssen, hat sich jetzt auch das BVerfG gemeldet (2) (3).

Die Beschlagnahme von Netzdateien hat den Cyberfahnder mehrfach beschäftigt. Die technischen und rechtlichen Grundlagen habe ich im Zusammenhang mit der Onlinedurchsuchung ( Webdienste, Ergebnisse) und der Durchsicht externer Speichermedien ( Onlinedurchsuchung light) entwickelt und insoweit die Position vertreten, dass sich die Eingriffsmaßnahme allein an den Anforderungen des § 94 StPO misst.

Damit habe ich insoweit recht behalten, dass beide obersten Gerichte keine Einschränkungen im Hinblick auf die Art und Schwere der Straftaten verlangen. Der BGH verlagert nur das Stadium des Zugriffs, indem er die Vorschriften der Postbeschlagnahme angewendet sehen will. Das bedeutet, dass konkrete Anhaltspunkte eine Straftat belegen und dass die Maßnahme einen unmittelbaren Bezug zum Beschuldigten hat. Das war nicht mein Thema und aus der Sicht der Praxis ist diese Einschränkung unproblematisch.

Hinzu kommen formelle Einschränkungen in Bezug auf die richterliche Bestätigung wegen Entscheidungen bei Gefahr im Verzug. Das macht die Arbeit nicht leichter, ist jedoch verständlich und behindert die Strafverfolgung jedenfalls nicht grundsätzlich.
 

 
Das BVerfG betrachtet die Eingriffsmaßnahme (gegen den Hostprovider) als offene Maßnahme ( Kasten links) und macht ebenfalls keine Einschränkungen wegen der Art und Schwere der Kriminalität ( Kasten Mitte). Dabei schwingt müde Enttäuschung mit (wenn wir hier meckern, dann erhöht der Gesetzgeber die Strafrahmen ...).

Wegen der Formalien bestätigt das BVerfG den BGH: Es verlangt nach konkreten Anhaltspunkten für eine Straftat und lässt sie nur in Bezug auf den Beschuldigten ( Kasten rechts) und dann zu, wenn sachliche Fakten vorhanden sind, dass der Zugriff zu bestimmten Beweismitteln führt. Damit wendet es sich ab von der Systematik des Gesetzgebers, der wegen der Auffindeprognose die auf Tatsachen fußende kriminalistische Erfahrung ausreichen lässt, und stellt den Beschuldigten ( § 102 StPO) dem unbeteiligten Dritten gleich ( § 103 StPO).

Das eröffnet eine Prognose: Die strenge Linie, die das BVerfG hier zeigt, lässt erwarten, dass es die Vorratsdatenspeicherung zwar nicht untersagen, ihre Durchführung jedoch so strengen Anforderungen unterwerfen wird, dass sie einem de-fakto-Verbot gleichkommen. Die Strafverfolgung wird dadurch so aufwendig, dass sie personell und sachlich zu teuer werden könnte.

Diese Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Vorgaben des BVerfG im Übrigen:
 

zurück zum Verweis praktische Beschränkungen Hervorhebung der Durchsicht
   

 
Das BVerfG wendet sich gegen die Beschlagnahme überschießender Daten ( Kasten links). Es sollen also nur die Daten in den amtlichen Gewahrsam genommen werden, die für die Untersuchung tatsächlich von Bedeutung sind.

Damit stellt sich das Gericht, wie es scheint, wiederum gegen den Gesetzgeber, der wegen der Beschlagnahme von Sachbeweismitteln ihre potenzielle Beweisbedeutung genügen lässt.

Zwei gute Gründe sprechen für die Position des Gesetzgebers:

Erst beim Urteil kann erkannt werden, welche Fakten die sichere Überzeugung stützen und welche Beweisketten nur flankierende Argumente liefern. Während der Ermittlungen müssen die Optionen schlicht und einfach offen bleiben.

Beweismittel sind nur dann überzeugungstauglich, wenn sie auch wegen ihrer Erhebung und ihres Zusammenhangs lückenlos sind. Das BVerfG und ihm folgend der Gesetzgeber perforieren jedoch die Beweisführung, indem sie Löschpflichten im Zusammenhang mit dem Kernbereich der persönlichen Lebensführung und wegen der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen installieren.

Dabei geht es nicht darum, Kern- oder Schutzbereichsinformationen zu verwerten, sondern darum, dem üblichen Vorwurf vorzubeugen, just die nicht dokumentierten Spuren und Beweise wären entlastend gewesen.

Konsequent und richtig wäre es deshalb, dem von mir vorgeschlagenen Hinterlegungsmodell zu folgen. Es verhindert Missbräuche und schafft Rechtssicherheit im Verfahren nach dem Abschluss der Ermittlungen.
 

 
Das BVerfG hebt das in § 110 StPO beschriebene Verfahren der Durchsicht hervor. Dabei geht es darum, aus einer Vielzahl von Schriftstücken die zu selektieren, die im Sinne von § 94 Abs. 1 StPO tatsächlich von Beweisbedeutung sind ( Kasten Mitte).

Damit mischt sich das BVerfG regelnd in eine von Unsicherheit geprägten Diskussion ein, die Mitte der neunziger Jahre vom Ermittlungsrichter beim BGH (unbeabsichtigt) im Zusammenhang mit der Datenbeschlagnahme ausgelöst wurde. Er verlangte vom Generalbundesanwalt eine zügige Datenauswertung und ließ es genügen, dass bereits nach Durchsicht eines Teils der (vorläufig) sichergestellten Daten beweiserhebliche darunter waren. Dies reiche aus, um alle Daten (oder ihr Surrogat auf polizeilichen Datenträgern) zu beschlagnahmen.

Darüber geht das BVerfG jetzt hinaus und verlangt eine lückenlose Durchsicht ( Kasten rechts und Kasten links).

Wenn schon, denn schon: Indem das BVerfG die Position des BGH aufnimmt und die Beschlagnahme von E-Mails den formellen Beschränkungen des § 99 StPO unterwirft, sieht es sie auch als geheime Ermittlung gemäß § 101 StPO an und verlangt nach den dort festgeschriebenen Mitteilungs- und Belehrungspflichten ( Kasten rechts).

Damit wendet sich das Gericht ein weiteres Mal gegen den Gesetzgeber. Im Zusammenhang mit offenen Eingriffsmaßnahmen gewährt er bislang nur Beteiligungsrechte den unmittelbar von ihnen Betroffenen. So kann sich der Dritte im Sinne von § 103 StPO gegen die Durchsuchung wehren, weil in sein Gewahrsamsrecht eingegriffen wird, nicht aber der Beschuldigte selber. Das dehnt das BVerfG jetzt aus. Ob das mit Bedacht geschah oder der scheuklapperigen Entscheidungslinie des BVerfG geschuldet war, weiß ich nicht.
 

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  Greifen Strafverfolgungsbehörden - wie bei Sicherstellungen und Beschlagnahmen - mit Kenntnis des Betroffenen, außerhalb eines laufenden Kommunikationsvorgangs auf Kommunikationsinhalte zu, kann der auch sonst im strafprozessualen Ermittlungsverfahren erforderliche Anfangsverdacht einer Straftat genügen. (Rn 69)
 
 

 
 
  Mit dem verfassungsrechtlich anerkannten Strafverfolgungsinteresse wäre es nicht vereinbar, sämtliche E-Mails für derartige Deliktsbereiche generell und ohne Rücksicht auf den Einzelfall von einer Sicherstellung und Beschlagnahme auszunehmen. Andernfalls wäre es für jeden Nutzer ein Leichtes, belastende E-Mails durch eine Auslagerung auf den Mailserver seines Providers dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden zu entziehen. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers für die Sicherstellung und Beschlagnahme von Mitteln herkömmlicher Kommunikation gemäß § 94 StPO und § 99 StPO der Anfangsverdacht einer einfachen Straftat genügen kann. Würden im Hinblick auf die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers höhere Anforderungen gestellt, bestünde zudem die Gefahr, dass die Strafrahmen für bestimmte Deliktsgruppen allein deshalb erhöht würden, um bei diesen Delikten einen Zugriff auf Daten und Kommunikationsinhalte zu ermöglichen. (Rn 74)
 
 

 
 
  Auf die E-Mails darf nur zugegriffen werden, wenn ein konkret zu beschreibender Tatvorwurf vorliegt, also mehr als nur vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen (...). Beim Zugriff auf die bei dem Provider gespeicherten E-Mails ist auch die Bedeutung der E-Mails für das Strafverfahren sowie der Grad des Auffindeverdachts zu bewerten. Im Einzelfall können die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden E-Mails sowie die Vagheit des Auffindeverdachts der Maßnahme entgegenstehen. (Rn 79)
 
 

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  Bei dem Vollzug von Durchsuchung und Beschlagnahme - insbesondere beim Zugriff auf umfangreiche elektronisch gespeicherte Datenbestände - sind die verfassungsrechtlichen Grundsätze zu gewährleisten, die der Senat in seinem Beschluss zur Durchsuchung und Beschlagnahme eines umfangreichen elektronischen Datenbestands (...) entwickelt hat. Hierbei ist vor allem darauf zu achten, dass die Gewinnung überschießender, für das Verfahren bedeutungsloser Daten nach Möglichkeit vermieden wird. Die Beschlagnahme sämtlicher gespeicherter Daten und damit des gesamten E-Mail-Verkehrs wird regelmäßig nicht erforderlich sein. (Rn 81)
 
 

 
 
  Eine sorgfältige Sichtung und Trennung der E-Mails nach ihrer Verfahrensrelevanz wird am Zugriffsort nicht immer möglich sein. Sofern die Umstände des jeweiligen strafrechtlichen Vorwurfs und die - auch technische - Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht erlauben, muss die vorläufige Sicherstellung größerer Teile oder gar des gesamten E-Mail-Bestands erwogen werden, an die sich eine Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der E-Mails anschließt. (Rn 87)
 
 

 
 
  Das Verfahrensstadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO ist der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme vorgelagert (...). Es entspricht dem Zweck des § 110 StPO, im Rahmen des technisch Möglichen und Vertretbaren lediglich diejenigen Informationen einem dauerhaften und damit vertiefenden Eingriff zuzuführen, die verfahrensrelevant und verwertbar sind. Während das Verfahren der Durchsicht auf der Grundlage der vorläufigen Sicherstellung zum Zweck der Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit auf die Vermeidung eines dauerhaften und umfassenden staatlichen Zugriffs nebst den hiermit verbundenen Missbrauchsgefahren abzielt, würde bei einer endgültigen, bis zum Verfahrensabschluss wirkenden Beschlagnahme des gesamten E-Mail-Bestands der staatliche Zugriff zeitlich perpetuiert und damit erheblich intensiviert. (Rn 88)
 
 

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  Eine endgültige Beschlagnahme liegt noch nicht vor. Sie hat sich auf konkrete Gegenstände zu beziehen, deren Beweiseignung und Beschlagnahmefähigkeit gegenstandsbezogen zu prüfen sind. Das dafür vorgesehene und der Beschlagnahme vorgelagerte Stadium der Durchsicht ist vorliegend noch nicht abgeschlossen. Die Durchsicht dient dazu, verfahrensrelevante von unerheblichen Daten zu trennen, um die Beschlagnahme sodann nur auf den relevanten Teil des Datenbestands zu erstrecken. Die E-Mails wurden indes noch nicht vollständig auf ihre Beweiserheblichkeit hin durchgesehen, weil das Bundesverfassungsgericht die weitere Durchsicht im Wege einer einstweiligen Anordnung unterbunden hat. (Rn 106)
 
 

 
 
  Die nach Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert auch im Gewährleistungsbereich des Art. 10 GG Vorkehrungen zum Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung. ... Es muss sichergestellt werden, dass Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht gespeichert und verwertet werden, sondern unverzüglich gelöscht werden, wenn es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist ... (Rn 90)
 
 

 
 
  Werden auf dem Mailserver des Providers gespeicherte E-Mails ausnahmsweise ohne Wissen des Postfachinhabers sichergestellt, so ist dieser so früh, wie es die wirksame Verfolgung des Ermittlungszwecks erlaubt, zu unterrichten. Andernfalls könnte er weder die Unrechtmäßigkeit der Erfassung noch etwaige Rechte auf Rückgabe oder Löschung der Daten geltend machen ... (Rn 94)
 
 

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(1) Beschlagnahme von E-Mails

(2) BVerfG, Beschluss vom 16.06.2009 - 2 BvR 902/06

(3) siehe auch:
Bundesverfassungsgericht erlaubt Ermittlern Zugriff auf E-Mails beim Provider, Heise online 15.07.2009
Peter Nowak, Im Zweifel für die Ermittlungsbehörden, Telepolis 16.07.2009
 

 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018