Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift gebietet auch bei
Bandentaten oder "uneigentlichen Organisationsdelikten" nicht, dass für
die Bestimmtheit des Anklagevorwurfs i.S.d.
§ 200 Abs. 1 Satz 1 StPO mehr an Substanz verlangt wird als
materiell-rechtlich für einen Schuldspruch erforderlich ist.
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Der
Leitsatz des BGH (
links) klingt technisch und unspektakulär. "Technisch" ist gemeint in
dem Sinne, dass eher ein handwerkliches Detail geregelt wird, das
ansonsten keine Brisanz hat. Falsch!
Zunächst
geht es tatsächlich um Handwerk. Das LG Karlsruhe hat ein
Verfahrenshindernis darin gesehen, dass die Anklage in einer
umfangreichen Strafsache wegen Produkt-Betruges (Umettikettierung
minderwertiger Stromgeneratoren aus China und ihre Aufwertung zu
westlichen Markenprodukten) die Handlungen der sechs Angeklagten nur
wegen ihrer Aufgaben und Handlungsfelder beschrieben hat, nicht aber
wegen aller einzelnen Verkaufs- und damit Betrugshandlungen der
Vertriebsvertreter. Es hat zunächst einen Großteil der Vorwürfe nicht
zur Hauptverhandlung zugelassen und wegen des Restes in laufender
Hauptverhandlung ein Einstellungsurteil verkündet. Ein
Einstellungsurteil erfolgt wegen eines Verfahrenshindernisses und
beendet nur das gerichtliche Verfahren. Es ist kein Freispruch, der
jeden Neuanlauf verhindern würde (Verbot der Mehrfachbestrafung,
Art
103 Abs. 3 GG).
Die
Anklage hat zwei Aufgaben: Die Umgrenzungs- und die Informationsfunktion
(2).
Das ist zunächst die Umgrenzungsfunktion, die dazu führt, dass die
erhobenen Vorwürfe so genau beschrieben und räumlich/zeitlich
eingegrenzt werden, dass keine Verwechslung mit anderen
Lebenssachverhalten erfolgen kann und die als strafbar bezeichneten
Handlungen und Folgen in ihren Kernen eindeutig bestimmt sind. Hinzu
kommt die Informationsfunktion, die über die sachliche Umschreibung der
Vorwürfe hinaus auch die Beweismittel und ihre Bewertung verlangt, um es
dem Angeschuldigten zu ermöglichen, sein Prozessverhalten auf die
Anklage einzustellen.
(3)
Wenn die
Anklageschrift die Umgrenzungsfunktion nicht leistet, ist sie mangelhaft:
Ein wesentlicher Mangel der Anklageschrift, der als
Verfahrenshindernis wirken kann, ist daher anzunehmen, wenn die
angeklagten Taten anhand der Anklageschrift nicht genügend
konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten
Sachverhalt sich die Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft
eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde (...). Bei der Prüfung,
ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen ggf. die
Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung und
Auslegung des Anklagesatzes herangezogen werden (...). <Rn 13>
Danach
bedarf es keiner ausufernden Anklagesätze, die über Stunden oder Tage
verlesen werden müssen (
§ 243 Abs. 3 S. 1 StPO) und die sich niemand merken kann. Das ging
noch, als es darum ging, dass der Wilddieb W dem Förster F den
erschossenen Keiler K um die Ohren schlug, um sich den K und seine
eigene Freiheit zu sichern. Serienbetrügereien und breitflächige
automatische Aktionen im Internet lassen sich damit aber nicht prägnant
beschreiben. Das ist auch im Interesse der Umgrenzung nicht nötig: Der
Täter, der nur einen Schalter gedrückt hat (
Rückruftrick), eine Malwareaktion startet mit Pharmen, Spam-Mails
und Botware oder Onlinebanking-Trojaner verteilt, handelt aktiv nur in
diesen Vorbereitungsstadien - und hofft auf den großen kriminellen
Erfolg. Ihm geht es nicht darum, den Meister M oder die Oma O zu
schädigen, sondern alle, die auf seine Methode hereinfallen. Deshalb
kommt es auch nur auf seine Methode an, die beschrieben werden muss, und
auf eine vernünftige Abgrenzung, die andere böse Angriffe ausschließt.
Das LG Karlsruhe hat aber die Informationsfunktion
der Anklage bemängelt und daraus ein Verfahrenshindernis geschlossen.
Das geht dem BGH zu weit.
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Als der
Große Senat des BGH 2001 eine neue Betrachtung der "Bande" vornahm,
schuf er kein neues Organisationsstrafrecht
(4).
Er eröffnete aber den Weg zu einer Rechtsprechung, die das "uneigentliche
Organisationsdelikt" einführte.
Ein echtes
Organisationsdelikt liegt vor, wenn bereits das Bekenntnis zu ihr oder
ihre aktive Förderung unter Strafdrohung steht. Das ist zum Beispiel bei
§ 84
StGB der Fall, der die Hinterleute, Rädelsführer und Aktivisten
einer von BVerfG als verfassungswidrig festgestellten Partei oder
Ersatzorganisation allein wegen ihrer Unterstützung mit Strafe bedroht.
Im
Zusammenhang mit arbeitsteiligen kriminellen Verbünden im Übrigen reicht
die schlichte Beteiligung nicht aus. Es müssen schon Sraftaten in
selbständig strafbarer Weise geplant und ausgeführt werden. Bekenntnisse
und Gesinnungen reichen dafür nicht aus.
Die
Rechtsfigur der Bande ist früher von der Zusammenarbeit der Täter am
Tatort und bei der direkten Tatausführung bestimmt gewesen. Ihre
Leitbilder sind die Einbrecher, die sich durch Wände und Decken den Weg
zum Tresor bahnen, um ihn auszuräumen, oder die britischen
Eisenbahnräuber, die mit logistischer Brillianz einen ganzen Zug in ihre
Gewalt bringen und das Gold, das er transportiert. Beide Tätergruppen
hätten aber keine Bande gebildet
(5).
Davon ist
der BGH 2001 abgerückt
(6).
Er lässt seither das arbeitsteilige Zusammenwirken
in einem Gesamtplan genügen, also
wenn ein
Bandenmitglied die Tat aufgrund seiner Ortskenntnisse
oder besonderer Organisationsmöglichkeiten
plant, ein anderes die erforderlichen
Vorbereitungen trifft, indem es die notwendigen
Werkzeuge oder Transportmittel besorgt, während
wieder ein anderes Bandenmitglied - möglicherweise
wegen seiner besonderen Kenntnisse
und Fähigkeiten - die Sache wegnehmen soll
und ein weiteres Bandenmitglied für den Abtransport
und die Sicherung der Beute Sorge trägt. Eine derartige Arbeitsteilung, die vor allem
für organisierte und spezialisierte Diebesbanden
typisch ist, ist zumindest genauso gefährlich wie
die Arbeitsteilung am Ort der Wegnahme selbst. <S. 18>
Was das
Organisationsmodell anbelangt, macht der BGH keinen Unterschied zwischen
Mittätern an einzelnen Taten und Bandentätern. Die Rechtsprechung
fasst deshalb (schon länger)
(7)
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abgesehen von durch einen Tatgenossen eigenhändig verwirklichten oder
durch einen individuellen Tatbeitrag mitverwirklichten Einzeldelikten -
Tatbeiträge eines Mittäters, mittelbaren Täters oder Gehilfen zum Aufbau,
zur Aufrechterhaltung und zum Ablauf eines auf Straftaten ausgerichteten
Geschäftsbetriebes unter Heranziehung des Zweifelssatzes (...) rechtlich
weitgehend zu einem - uneigentlichen - Organisationsdelikt zusammen...,
durch welches mehrere Einzelhandlungen oder mehrere natürliche
Handlungseinheiten rechtlich verbunden und hiermit die aus der
Unternehmensstruktur heraus begangenen Straftaten in der Person dieser
Tatbeteiligten zu einer einheitlichen Tat oder gegebenenfalls zu wenigen
einheitlichen Taten im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammengeführt werden
(...).
Besonders
plastisch wird das bei einem 2008 entschiedenen Fall
(8):
Der Täter hatte einen Firmenmantel beschafft, den seine Komplizen für
mehrere betrügerische Leasingverträge missbrauchten. Allein die
Beschaffung des Firmenmantels macht ihn zum Mittäter (nicht nur zum
Gehilfen!), weil ohne seine Mitwirkung der Tatplan nicht ausgeführt
werden konnte. Während seinen Komplizen mehrere Taten vorzuwerfen sind -
Beteiligung an einzelnen Leasingverträge und Unterschlagung der
betreffenden Kraftfahrzeuge - hat der Mantelbeschaffer nur eine begangen,
weil er mit der Beschaffung und Übergabe des Firmenmantels nur einmal
und abschließend gehandelt hat, die aber alle ertrogenen Fahrzeuge
umfasst.
2011 hat
der BGH die Frage nach dem uneigentlichen Organisationsdelikt im
Zusammenhang mit volksverhetzenden Internetradio-Betreibern aufgegriffen
(9).
Dort heißt es <Rn 16>:
Haben
bei einer durch mehrere Personen begangenen Deliktsserie einzelne
Angeklagte einen Tatbeitrag zum Aufbau oder zur Aufrechterhaltung einer
auf die Begehung von Straftaten ausgerichteten Infrastruktur erbracht,
sind die Einzeltaten der Mittäter zu einem uneigentlichen
Organisationsdelikt zusammenzufassen, durch welches mehrere
Einzelhandlungen rechtlich verbunden und hiermit die auf Grundlage
dieser Infrastruktur begangenen Straftaten in der Person der im
Hintergrund Tätigen zu einer einheitlichen Tat oder gegebenenfalls zu
wenigen einheitlichen Taten im Sinne des
§ 52 Abs. 1 StGB zusammengeführt werden (
BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 - 3 StR
344/03 ...;
Beschluss vom 21. Dezember 1995 - 5 StR 392/95, NStZ 1996,
296 f. <Leitsätze ohne Aussagewert>;
Beschluss vom 26. August 2003 - 5 StR 145/03 ...).
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Ein
echtes Organisationsdelikt liegt vor, wenn das Bekenntnis oder die
aktive Förderung einer verbotenen Organisation zur Strafbarkeit
ausreicht. Es ist Gesinnungsstrafrecht, das über die persönliche Meinung
hinaus wenigstens auch nach fördernden Handlungen (Diskussionsbeiträge,
verteilte Flugblätter, Veröffentlichungen im Internet u.a.) verlangt.
Uneigentliche Organisationsdelikte verlangen
mehr, nämlich einen erheblichen Tatbeitrag, der die bezweckte Straftat
direkt fördert. Wegen der Bildung und Unterstützung einer kriminellen
Vereinigung reicht es zwar aus, als Hintermann, Rädelsführer oder
Unterstützer die Infrastruktur der Vereinigung zu fördern (
§ 129 StGB), aber Straftaten müssen die Beteiligten an der
Vereinigung schon begehen.
Damit
kommen wir zurück zu dem Urteil vom 24.01.2012 (10)
und einem unauffälligen Nebensatz:
Die Verneinung einer Bandenabrede durch den Tatrichter und auch die
Nichtannahme eines - hier dann allerdings nahe
liegenden - "uneigentlichen Organisationsdeliktes" (vgl. hierzu
auch
BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 4 StR 252/11 Rn. 12)
mögen dazu führen, dass noch strengere Anforderungen an die Feststellung
der konkreten Tatbeiträge eines jeden Angeklagten an den jeweiligen
Taten zu stellen sind, sie führen aber nicht dazu, dass die vorher zu
Recht (im Eröffnungsbeschluss) angenommene Einhaltung der
Umgrenzungsfunktion entfällt.
Unauffällige Nebensätze haben eine beachtliche Signalwirkung und das
Signal hier lautet: Die neue Rechtsprechung seit 2001 stellt besonders
auch auf die Tatbeiträge der Hinterleute ab. Wenn ihre fördernden oder
initiierenden Handlungen belegt sind, sind sie als Mittäter zu bestrafen.
Das gilt jedenfalls dann, wenn Straftaten begangen und bewiesen werden
können, zu denen die Hinterleute einen fördernden oder gestaltenden
Beitrag geleistet haben (11).
Der BGH
breitet seine Winke mit dem Zahnpfahl selten in epischer Breite aus und
hat das auch hier nicht getan. Sein Fuchteln wird deshalb keine breite
Öffentlichkeit erreicht haben und es wird noch lange Zeit in Anspruch
nehmen, bis das Signal in der Praxis angekommen ist. Zudem besteht der
BGH aus fünf Strafsenaten und etlichen Spruchgruppen, die alle eigene
Vorlieben und Besonderheiten ausbilden können.
Der BGH ist nicht der BGH als solches, sondern die Summe seiner Richter.
Für die harte Linie gegen die wenig in Erscheinung tretenden Hinterleute
spricht allerdings, dass sich eine gewisse Rechtsprechungstradition
herausgebildet hat, von der im Einzelfall immer Mal wieder abgewichen
werden kann. Außerdem ist die Entscheidungspraxis der Tatsacheninstanzen
tendenziell träge und wenig bereit, Signalen hinterher zu laufen. Manche
Jäger müssen auch zum Jagen getragen werden. Das ist dann die Aufgabe
derjenigen, die die Signale verstanden haben (die dann auch irgendwann
den Elan verlieren können).
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