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Bestandsaufnahme und praktische Konsequenzen
aus dem Urteil des BVerfG
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Das
Bundesverfassungsgericht hat am 02.03.2010 die geltenden
telekommunikationsrechtlichen Regeln zur Vorratsdatenspeicherung und den
strafverfahrensrechtlichen Zugriff auf sie für nichtig erklärt
(1). Damit stellen sich die Fragen danach, wie mit den "Altdaten"
umgegangen werden muss, die auch nach Maßgabe des BVerfG zulässig
erhoben wurden, und welche Daten künftig noch erhoben werden dürfen.
Die
beanstandeten Regeln wurden mit Wirkung vom 01.01.2008
(2)
im Rahmen der StPO-Novelle 2007 eingeführt
(3).
Dazu gehörte eben auch die
Vorratsdatenspeicherung, für deren Beginn eine Übergangsfrist bis zum
01.01.2009 galt. Sie hat in Bezug auf das Strafverfahren
zwei Regelungsbereiche, die im Telekommunikationsgesetz und in der
Strafprozessordnung angesiedelt sind.
§ 113 TKG verpflichtet die Betreiber von geschäftsmäßigen
TK-Dienstleistungen (Zugangsprovider) unter Verweis auf die
§§ 95 bis 111 TKG zur Auskunft an die Strafverfolgungsbehörden im
Hinblick auf die Daten, die sie zu Zwecken ihres kaufmännischen und
technischen Betriebes benötigen (siehe
unten links). Dazu gehören die
Bestandsdaten (
§ 95 TKG) und die nach Maßgabe von
§ 96 Abs. 1 S. 1 TKG begrenzten
Verkehrsdaten.
Diese Vorschriften gelten fort und wurden vom BVerfG nicht aufgehoben.
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Die
Vorratsdatenspeicherung wurde von
§ 113a TKG angeordnet. Der darin enthaltene Datenkatalog war
erheblich umfangreicher. Die Speicherdauer betrug 6 Monate, die Daten
mussten binnen eines weiteren Monats gelöscht werden.
§ 113b TKG enthielt die Ermächtigung, dass die Zugangsprovider die
Vorratsdaten an die Strafverfolgungsbehörden herausgeben durften. Beide
Vorschriften sind vom BVerfG als verfassungswidrig und nichtig erklärt
worden.
Die
einschlägige strafverfahrensrechtliche Eingriffsnorm ist
§ 100g StPO. Sie ist nach der Entscheidung des BVerfG insoweit
nichtig, wie sie den Zugriff auf Vorratsdaten gemäß
§ 113a TKG zuließ. Im übrigen gilt die Vorschrift fort und das gilt
vor allem auch wegen der (inhaltlich begrenzten) Verkehrsdaten, die von
§ 96 Abs. 1 S. 1 TKG definiert werden.
Daraus
folgt zunächst, dass künftig keine Vorratsdaten gemäß
§ 113a TKG vorgehalten und schon deshalb nicht nach
§ 100g StPO im Strafverfahren beigezogen werden können.
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Wirkung der Nichtigkeit |
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Verkehrsdaten gemäß
§ 96 Abs. 1 S. 1 TKG: |
1. |
die Nummer oder Kennung der beteiligten Anschlüsse oder der
Endeinrichtung, personenbezogene Berechtigungskennungen, bei
Verwendung von Kundenkarten auch die Kartennummer, bei mobilen
Anschlüssen auch die Standortdaten, |
2. |
den Beginn und das Ende der jeweiligen Verbindung nach Datum und
Uhrzeit und, soweit die Entgelte davon abhängen, die
übermittelten Datenmengen, |
3. |
den vom Nutzer in Anspruch genommenen Telekommunikationsdienst, |
4. |
die Endpunkte von festgeschalteten Verbindungen, ihren Beginn
und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit und, soweit die Entgelte
davon abhängen, die übermittelten Datenmengen, |
5. |
sonstige zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung der
Telekommunikation sowie zur Entgeltabrechnung notwendige
Verkehrsdaten. |
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Zur
Entscheidung über die Nichtigkeit ist das BVerfG durch
§ 95 Abs. 3 in Verbindung mit
§ 78 BVerfGG befugt. Daraus folgt jedenfalls, dass dieses Gesetz
künftig nicht mehr angewendet werden darf
(4). Die
Einzelheiten der Rechtsfolgen der Nichtigkeit werden von
§ 79 BVerfGG angesprochen. Danach können rechtskräftige Strafurteile
durch
Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der
Strafprozessordnung angegriffen werden.
Die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist nach
§ 359 StPO vor allem dann zulässig, wenn sich die Tatsachengrundlagen des
Strafurteils im Nachhinein als nachweislich falsch erwiesen haben. Eine
Besonderheit stellt
§ 359 Nr. 6 StPO dar, der eine Wiederaufnahme auf der Grundlage
einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
zulässt. In ähnlicher Weise lässt auch
§ 79 Abs. 1 BVerfGG die Wiederaufnahme zu, soweit die Verurteilung
auf dem nichtigen Gesetz beruht. Das ist der Fall,
wenn das Gericht bei richtiger
Rechtsanwendung möglicherweise anders (als im angefochtenen Urteil
geschehen) entschieden hätte.
§ 100g StPO ist aber kein materielles Strafgesetz, dessen Tatbestand
mit Strafe droht, sondern eine Regel des Strafverfahrensrechts. In
diesem Zusammenhang ist in der Literatur die Ansicht verbreitet, dass
die Nichtigkeit nicht auf Verfahrensregeln mit Bezug auf die
Vergangenheit wirkt. Die viel behauptete Klarheit lässt die
Rechtsprechung vermissen.
Nach einhelliger Meinung stellt die Eröffnung des
Wiederaufnahmeverfahrens gemäß
§ 79 Abs. 1 BVerfGG die Ausnahme dar
(5). Die Regel bildet danach
§ 79 Abs. 2 BVerfGG, der rechtskräftige Entscheidungen
bestandskräftig erhält und nur ihre Vollstreckung hemmt.
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Dafür sind
zwei gegensätzliche Gründe ausschlaggebend, für die das BVerfGG einen
Kompromiss sucht.
Wenn seine Nichtigkeit festgestellt wird, dann ist das Gesetz von
vornherein verfassungsrechtlich verboten gewesen und wird es rückwirkend
aufgehoben (ex tunc).
Während seiner Geltung ist es jedoch - möglicherweise sogar lange
Jahre - auf eine Vielzahl von Sachverhalten angewendet worden. Die
konsequente Rückwirkung würde die Bestandskraft aller auf der Gesetzesanwendung
beruhender Entscheidungen in Frage stellen und damit eine
unverantwortliche Rechtsunsicherheit verursachen.
Dieses Dilemma zwischen Verfassungswidrigkeit einerseits und
Gewährung von Rechtssicherheit andererseits beschäftigt die
Rechtswissenschaft seit Jahrzehnten
(6).
Insoweit hat das BVerfG auch prozessuale Verfahren der Wiederaufnahme unterworfen
(7),
wenn sie die Gerichtsverfassung regeln. Das bedeutet, dass
Verfahrensregeln unwirksam werden, die den Gerichtsweg und besonders den
gesetzlichen Richter betreffen (
Art. 101 S.2 GG), nicht aber das Verfahrensrecht, das der berufene
Richter anwendet.
Die von
§ 79 Abs. 1 BVerfGG eröffnete Wiederaufnahme stellt, wie gesagt, die Ausnahme dar
und
§ 79 Abs. 2 BVerfGG den Regelfall
(8).
Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich davon, dass
niemand gezwungen sein soll,
den Makel
einer Strafe auf sich lasten zu lassen, die auf einem
verfassungswidrigen Strafgesetz beruht
(28).
Der Begriff Strafgesetz bezeichnet aber
ausschließlich materielle Strafnormen, nicht auch formelle. |
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keine rückwirkende Nichtigkeit |
wirksame unechte Rückwirkung |
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Im
Bereich von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren können dem Bürger durch
Änderungen der Verfahrensordnungen mit Wirkung für bereits anhängige
Verfahren wesentliche Positionen für die Wahrung seiner Rechte verkürzt
oder abgeschnitten werden. ... (Rn 18)
Die Regelung
bewirkt allerdings keine sogenannte echte Rückwirkung. Eine solche setzt
voraus, dass der Gesetzgeber nachträglich ändernd in abgewickelte, der
Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. ... (Rn 19)
Anders als
eine echte Rückwirkung, der das Rechtsstaatsprinzip enge Grenzen zieht
(...) und die deshalb verfassungsrechtlich in der Regel untersagt ist
(...), ist die unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig (...). Jedoch
ergeben sich für den Gesetzgeber auch hier aus dem rechtsstaatlichen
Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes Schranken. Im
näheren hängt die Beurteilung von dem Ergebnis einer Abwägung zwischen
dem Ausmaß des Vertrauensschadens des Einzelnen und der Bedeutung des
gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit ab. (Rn 20)
(15)
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Danach
behalten alle Anordnungen gemäß
§ 100g StPO Bestandskraft, wenn sie nicht nur beschlossen wurden,
sondern auch vollstreckt. Diese Einschränkung ergibt sich aus
§ 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG, der die Vollstreckung aus auf
verfassungswidriger Grundlage ergangener Entscheidungen untersagt.
Anordnungen gemäß
§ 100g StPO richten sich gegen den Zugangsprovider. Er wird durch
sie zur Herausgabe der bei ihm gespeicherten Verkehrsdaten verpflichtet.
Sobald der Zugangsprovider die herausgegeben hat, ist die Vollstreckung
im Sinne von
§ 100g StPO abgeschlossen.
Keine
Vollstreckung in diesem Sinne ist der nachträgliche Rechtsschutz, den
§
101 Abs. 7 StPO bietet. Er ist kein Rechtsmittel, der gegen den
Vollzug einer Eingriffsentscheidung gerichtet ist, sondern ausdrücklich
(
§ 101 Abs. 4 S. 2 StPO) eine nachträgliche Überprüfung der
Rechtmäßigkeit und des Vollzuges des Eingriffs, nachdem er beendet ist
(9).
Die gerichtliche Entscheidung dient vor allem der Nachholung des
rechtlichen Gehörs. Die gerichtliche Entscheidung ist sozusagen der
Ersatz der sonst gebotenen Anhörung, die nach
§ 33 Abs. 4 StPO unterbleiben darf, wenn durch sie der
Untersuchungszweck gefährdet würde.
Der Maßstab
für die Entscheidung nach
§
101 StPO ist das zum Zeitpunkt der Entscheidung und Vollstreckung
geltende Recht
(10).
Für die Zeit seit dem 11.03.2008 gilt deshalb der Maßstab, den das
BVerfG durch einstweilige Anordnungen gestaltet hat.
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Mit der
einstweiligen Anordnung vom 11.03.2008
(11)
hat das BVerfG den Vollzug des
§ 100g StPO in Bezug auf Vorratsdaten weitgehend ausgesetzt
(12).
Danach durften die Zugangsprovider nur in den Fällen die Vorratsdaten
herausgeben, denen Ermittlungen wegen einer
Katalogstraftat gemäß
§ 100a Abs. 2 StPO zugrunde lagen. In allen anderen Fällen mussten
die angeforderten Vorratsdaten bis zur abschließenden Entscheidung des
BVerfG gespeichert und durften nicht herausgegeben werden. Die
einstweilige Anordnung wurde mehrfach erweitert und verlängert
(13).
Im abschließenden Urteil hat das BVerfG die Löschung der eingefrorenen
Daten angeordnet. Zu den Vorratsdaten, die nach der einstweiligen
Verfahrensregelung herausgegeben werden durften, sagt es ausdrücklich
nichts
(14).
Wegen
schwebender Entscheidungen ist es dem Gesetzgeber erlaubt, vorläufige
materielle und Verfahrensregeln zu treffen. In engen Grenzen darf er
dazu auch rückwirkend in Rechtsverhältnisse eingreifen ("echte
Rückwirkung"). Die "unechte Rückwirkung", die sich auf Verfahrensregeln
beschränkt, ist jedoch nach Maßgabe der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes grundsätzlich zulässig [siehe Kasten
links unten,
(15)].
Nichts
anderes hat das BVerfG mit seinen einstweiligen Anordnungen getan. Nach
den Grundsätzen der unechten Rückwirkung bleiben die zwischenzeitlichen
Anordnungen gemäß
§ 100g StPO in Bezug auf Straftaten gemäß
§ 100a Abs. 2 StPO wirksam und wegen ihrer Folgen vollziehbar.
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Verwertung von Vorratsdaten |
Verwertungsverbote |
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Eine
Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn
eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung und
Anwendung durch die Gerichte - ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende
Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich
Unverzichtbares preisgegeben wurde (...). Im Rahmen dieser Gesamtschau
sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege
in den Blick zu nehmen (...). Insofern ist zu bedenken, dass jedes
Beweiserhebungs- und -verwertungsverbot die Beweismöglichkeiten der
Strafverfolgungsbehörden zur Erhärtung oder Widerlegung des Verdachts
strafbarer Handlungen einschränkt und so die Findung einer materiell
richtigen und gerechten Entscheidung beeinträchtigt; von Verfassungs
wegen stellt ein Beweisverwertungsverbot mithin eine
begründungsbedürftige Ausnahme dar ...
(19)
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Die
Vorratsdaten, die seit dem 11.03.2008 nach Maßgabe der einstweiligen
Anordnung des BVerfG erhoben und von den Zugangsprovidern herausgegeben
wurden, bleiben gemäß
§ 79 Abs. 2 BVerfGG und den Grundsätzen der
unechten Rückwirkung verwertbar.
Dem stehen
auch nicht die inhaltlichen Schranken entgegen, die das BVerfG jetzt in
Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung gesetzt hat.
Seit dem 11.03.2008 durften nur die Vorratsdaten an die
Strafverfolgungsbehörden herausgegeben werden, die die Fälle einer
Katalogstraftat gemäß
§ 100a Abs. 2 StPO und damit die besonders schwere Kriminalität
betrafen
(16).
Wegen dieser Kriminalitätsformen betrachtet das BVerfG noch immer die
Verwertung von Vorratsdaten als zulässig
(17).
Somit
stehen weder Gründe des Verfahrensrechts noch des sachlichen
Verfassungsrechts der Verwertung der in der Zwischenzeit erhobenen
Vorratsdaten entgegen.
Für sie ist kein Verwertungsverbot
eingetreten!
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Das BVerfG
unterscheidet zwischen absoluten und relativen Verwertungsverboten
(18),
wobei letztere
eine
Verwertung nur unter erhöhten Anforderungen zulassen.
Von
Verfassungs wegen gebotene Verwertungsverbote haben immer einen
Ausnahmecharakter (siehe Kasten
links) und greifen nur dann, wenn bei einer Gesamtschau das
Rechtsstaatsprinzip durchbrochen wurde.
Dadurch, dass das BVerfG im Rahmen seiner
einstweiligen Anordnungen den Anwendungsbereich des
§ 100g StPO auf
Katalogstraftaten beschränkt hat, steht in diesen Fällen der
Verwertung nichts entgegen.
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Schwellengleichheit |
Spurenansatz, Ergreifung |
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Etwas
anderes gilt wegen der Zufallsfunde. Damit sind die Vorratsdaten
gemeint, die wirksam und verwertbar erhoben wurden und Auskunft über
andere Straftaten geben.
Bis zum 02.03.2010 galten für sie die
§§
161 Abs. 2 (Import) und
477
Abs. 2 S. 2 StPO (Export) nach Maßgabe der einstweiligen Anordnungen
des BVerfG. Mit anderen Worten: Verwertbare Vorratsdaten konnten bis
dahin auch in andere Verfahren eingebracht und als Vollbeweis verwertet werden, wenn
auch dort (wegen einer
Katalogstraftat) ihre Erhebung zulässig gewesen ist. Der
entscheidende Zeitpunkt, auf den dabei abzustellen ist, ist der des
erneuten Grundrechtseingriffs, also dann, sobald über die Verwertung der
Vorratsdaten entschieden wurde
(20).
Seit dem
02.03.2010 ist
§ 100g StPO insoweit nichtig, wie er den strafverfahrensrechtlichen
Zugriff auf Vorratsdaten zuließ. Seither ist ihre Erhebung in
Strafverfahren verboten und fehlt es an einer Norm, mit der sich die
Schwellengleichheit begründen ließe.
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Der Grundsatz der Schwellengleichheit gilt nur für die Vorratsdaten, die
als Vollbeweis verwertet werden sollen.
Etwas anderes gilt für den vom BVerfG anerkannten Spurenansatz
(21).
Danach können auch nicht schwellengleiche Erkenntnisse zur Begründung
von Eingriffsmaßnahmen herangezogen werden. Bei der gerichtlichen
Urteilsbildung bleiben sie jedoch unverwertbar, nicht aber die neuen
Erkenntnisse, die aufgrund anderer Ermittlungsmaßnahmen gewonnen wurden.
Daraus folgt, dass die wirksam erhobenen Vorratsdaten im Rahmen des
Spurenansatzes auch als Zufallsfunde mit der Beschränkung verwertet
werden dürfen, dass sie nur die Begründung neuer Ermittlungsmaßnahmen
erlauben. In der folgenden gerichtlichen Verhandlung besteht ein
Verwertungsverbot als Vollbeweis.
Ebenfalls erkennt das BVerfG die Verwertung nicht schwellengleicher Erkenntnisse zur
Aufenthaltsermittlung und Ergreifung von Tätern an
(22).
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Fazit |
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Seit dem 02.03.2010 können keine Vorratsdaten erhoben werden. |
Die seit
dem 11.03.2008 unter den Einschränkungen der einstweiligen Anordnung des
BVerfG erhobenen Vorratsdaten sind weiterhin verwertbar. Das gilt auch dann,
wenn sich seither der rechtliche Gesichtspunkt der Strafbarkeit geändert hat. |
Die
Vorratsdaten, die bis zum 02.03.2010 als Zufallsfunde Eingang in andere
Verfahren gefunden haben, bleiben verwertbar, wenn sie schwellengleiche
Vorwürfe betreffen. |
Seit dem
02.03.2010 können Vorratsdaten nicht mehr als Zufallsfunde eingeführt
werden. Das gilt nicht im Zusammenhang mit dem Spurenansatz und zur
Ergreifung des Täters. |
Seit dem
02.03.2010 können nur noch zurückliegende Verkehrsdaten erhoben werden, die
die Zugangsprovider zu kaufmännischen oder technischen Zwecken speichern
dürfen. Die künftigen Verkehrsdaten können weiter erhoben werden. |
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Durch die Nichtigkeitserklärung des BVerfG im Hinblick auf
§ 100g StPO, soweit er den Zugriff auf Vorratsdaten zugelassen hat,
ist seit dem 02.03.2010 die Einführung von Vorratsdaten in
Strafverfahren ausgeschlossen. Das gilt wegen
§
161 Abs. 2 StPO auch für Vorratsdaten, die als Zufallsfunde in
anderen Verfahren verwendet werden sollen.
Die Verwertung der seit dem 11.03.2008 erhobenen Vorratsdaten ist
zulässig. Sie konnten nur nach Maßgabe der
einstweiligen Anordnungen des
BVerfG erhoben werden und waren auf die Fälle der besonders schweren Kriminalität nach dem
Straftatenkatalog des
§ 100a Abs. 2 StPO beschränkt. Sie trifft
keine rückwirkende Nichtigkeit und
kein Verwertungsverbot.
Diese Vorratsdaten dürfen auch dann verwertet werden, wenn sich seit
ihrer Erhebung der rechtliche Gesichtspunkt geändert hat (23)
und wenn sie im Rahmen des
Spurenansatzes oder
zur Ergreifung genutzt werden sollen.
Auf der Grundlage des
§ 100g StPO können jetzt nur noch
Verkehrsdaten im Sinne von
§ 96 Abs. 1 S. 1 TKG erhoben werden. Das sind solche, die
von den Zugangsprovidern aus kaufmännischen oder technischen Gründen
gespeichert werden müssen. Sie stehen höchstens für die Dauer von 3
Monaten zur Verfügung.
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Die
Nichtigkeitserklärungen des BVerfG in Bezug auf die Speicherung und
Erhebung von Vorratsdaten wird die Strafverfolgung belasten. War bislang
der Zugriff auf die Verkehrsdaten das mildere Mittel gegenüber der
Überwachung der Telekommunikation, wird sie wahrscheinlich häufiger
zum Einsatz kommen. Im Zusammenhang mit ihr können die künftigen
Verkehrsdaten weiterhin aufgezeichnet werden (
§ 100g Abs. 1 S. 3 StPO).
Neben
dem Zugriff auf Vorratsdaten fehlt der Strafverfolgung auch das
Instrument der
Onlinedurchsuchung
(24).
Der Gesetzgeber lässt nicht erwarten, dass er zügig die Vorgaben des
BVerfG in beiden Fällen umsetzen wird
(25),
obwohl der politische Druck stark zu werden beginnt.
Den
größten Druck wird die Urheber-Lobby ausüben. Sie ist in aller Regel bei
der Durchsetzung ihrer gewerblichen Schutzrechte auf Auskünfte über
dynamische IP-Adressen angewiesen, die ihrerseits nur anhand von
Verkehrsdaten aufgelöst werden können. Solche
Nutzungen im Einzelfall hat das BVerfG unabhängig von der Schwere
der Tat oder der Beeinträchtigung als zulässig angesehen.
Weiterer Druck wird seitens der EU kommen, zumal sie die Vorgaben für
das gescheiterte Gesetz gegeben hat.
Die
jubelnden Gewinner müssen sich vor Augen halten, dass die
Vorratsdatenspeicherung nicht völlig unzulässig ist und auch die
Verwertung dieser Daten Berechtigung hat. Der Gesetzgeber ist in
Zugzwang und wird nicht ewig auf sich warten lassen können.
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Aktualisierung |
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28.03.2010: Eine aufmerksame Nutzerin hat mich auf die Kommentierung zu
§ 32 BVerfGG bei Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge hingewiesen, die
meine Argumentation abrundet
(26a).
Sie hat recht.
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Zitate |
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§ 79 BVerfGG regelt in seinen Absätzen 1 und 2 die Folgen von
Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die
eine Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlage
Entscheidungen ergangen sind, die schon
rechtskräftig geworden oder auch sonst nicht mehr anfechtbar sind. Da
der Gesetzgeber bei Erlass des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahre 1951 (...) davon ausging,
dass die Rechtsfolge der
Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes dessen Nichtigkeit mit Wirkung ex
tunc sein würde (...),
sollten mit
§ 79 BVerfGG die Rechtsfolgen der Nichtigkeit im Interesse des
Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit begrenzt
werden ...
(27)
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Das geschah
vor allem durch die bis heute unverändert gebliebene Vorschrift des
§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, in der als
Grundsatz (...) bestimmt ist, dass - vorbehaltlich des
§ 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer
besonderen gesetzlichen Regelung - nicht mehr anfechtbare
Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen,
unberührt bleiben, also in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt
werden sollen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz
machte der Gesetzgeber nur für das Strafrecht (...). Niemand soll
gezwungen sein, den Makel einer Strafe auf sich lasten zu lassen, die
auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz beruht.
Deshalb hat der Gesetzgeber in
§ 79 Abs. 1 BVerfGG einen zusätzlichen
Wiederaufnahmegrund geschaffen (...), mit Hilfe dessen es dem Verurteilten möglich sein soll, diesen
Makel nach den Vorschriften der Strafprozessordnung
durch Aufhebung oder Berichtigung des auf verfassungswidriger Grundlage
ergangenen Strafurteils zu beseitigen (...). Nur in diesem Fall soll deshalb die Rechtskraft der
Entscheidung durchbrochen werden können.
(28)
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Insofern
fallen sowohl von Gerichten der Bundesrepublik Deutschland
ausgesprochene falsche Strafurteile als auch solche aus
der Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft in den
Anwendungsbereich der
§ 359 ff. StPO. Selbstverständlich ist grundsätzlich ein
Wiederaufnahmeverfahren auch dann zulässig, wenn das Strafurteil auf
einem nicht prozessordnungsgemäßen Verfahren beruht (...). Nach der auf
der Rechtslage vor Inkrafttreten des NS-
Aufhebungsgesetzes beruhenden Ansicht von Gössel (...) gilt dies
unabhängig davon, ob man derartige Urteile, etwa von Sondergerichten
oder des Volksgerichtshofes, für nichtig erachtet. Danach gebietet das
Rehabilitationsinteresse, wenn man die jeweiligen Entscheidungen als
nichtig ansieht, den förmlichen, deklaratorischen Nichtigkeitsausspruch
durch das Wiederaufnahmegericht wegen rechtsstaatswidriger
Verfahrensweise, allerdings ohne jede Entscheidung in der Sache. Anders
würde die zur Nichtigkeit des Urteils führende evident
rechtsstaatswidrige Verfahrensweise widersprüchlich insoweit mindestens
teilweise anerkannt werden, als eine konstitutiv wirkende formal
verfahrensbeendende Entscheidung für erforderlich gehalten wird, während
in Wahrheit die Entscheidung wie das dazu führende Verfahren
unbeachtlich sind, was nur deklaratorisch (in der Begründung des die
Nichtigkeit feststellenden Beschlusses) festgestellt werden kann (...).
(29)
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Anmerkungen |
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(1)
BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 - 1 BvR 256, 263, 586/08
(2)
siehe auch
StPO-Reform 2007
(3)
Gesetz
zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter
Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG
(4)
Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hat dieselbe Folge wie die
der Nichtigkeit:
Die Norm darf ab sofort, d. h. vom Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts an, in dem
sich aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr angewandt werden.
Siehe
BVerfG, Beschluss vom 21.05.1974 - 1 BvL 22/71, 21/72,
Rn 134.
(5)
siehe Kasten
links und Mitte
(6)
Eine besondere Tiefe hat der Aufsatz von
Manfred Löwisch, Zu den Folgen der
Nichtigkeitsfeststellung eines
Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht,
insbesondere für private Rechtsverhältnisse, Juristenzeitung 1961,
S. 731 - 735.
(7)
siehe Kasten
oben
rechts
(8)
siehe Kasten
oben Mitte
(9)
BGH, Beschluss vom 08.10.2008 - StB 12-15/08, Rn 7.
(10)
Schluss aus
BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08, Rn 13, wonach
das zum Zeitpunkt der Eingriffsmaßnahme geltende Recht zugrunde gelegt
werden muss.
(11)
BVerfG, Beschluss vom 11.03.2008 - 1 BvR 256/08
(12)
Verwertung von Vorratsdaten nur wegen schwerer Kriminalität
|
(13)
und noch
'ne Sondererhebung
(14)
(1)
(15)
BVerfG, Beschluss vom 19.10.1999 - 1 BvR 1996/97
(16)
Definition:
BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/97, 1084/99,
Rn 238, 241, 335; siehe auch
Klarstellung vom Bundesverfassungsgericht.
(17)
(1), Rn 228, 229.
(18)
BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009 - 2 BvR 2438/08,
Rn 8 ff.
(19)
(18), Rn 7.
(20)
BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08, Rn 11,
13; siehe auch
zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse.
(21)
BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99,
S. 64.
(22)
(21)
(23)
Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts
(24)
Online-Zugriff an der Quelle
(25)
Leutheusser-Schnarrenberger unter Druck, tagesschau.de 03.03.2010
(26)
Vorratsdatenspeicherung: CDU-Politiker drängen auf schnelle
Nachfolgeregelung, Heise online 06.03.2010
(26a)
Graßhof in Maunz, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz,
31. Ergänzungslieferung 2009
(27)
BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 vR 1905/02,
Rn 31.
(28)
ebenda
(27), Rn 32
(29)
BVerfG, Beschluss vom 08.03.2006 - 2 BvR 486/05, Rn
93.
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Cyberfahnder |
|
© Dieter Kochheim,
11.03.2018 |