Cybercrime | Ermittlungen | TK & Internet | Literatur | intern | Impressum |
März 2010 |
|
|
||||||
Umgang mit Verkehrsdaten |
Bestandsaufnahme und praktische Konsequenzen
aus dem Urteil des BVerfG |
||||||||||||||||
|
Das Bundesverfassungsgericht hat am 02.03.2010 die geltenden telekommunikationsrechtlichen Regeln zur Vorratsdatenspeicherung und den strafverfahrensrechtlichen Zugriff auf sie für nichtig erklärt (1). Damit stellen sich die Fragen danach, wie mit den "Altdaten" umgegangen werden muss, die auch nach Maßgabe des BVerfG zulässig erhoben wurden, und welche Daten künftig noch erhoben werden dürfen. Die beanstandeten Regeln wurden mit Wirkung vom 01.01.2008 (2) im Rahmen der StPO-Novelle 2007 eingeführt (3). Dazu gehörte eben auch die Vorratsdatenspeicherung, für deren Beginn eine Übergangsfrist bis zum 01.01.2009 galt. Sie hat in Bezug auf das Strafverfahren zwei Regelungsbereiche, die im Telekommunikationsgesetz und in der Strafprozessordnung angesiedelt sind. § 113 TKG verpflichtet die Betreiber von geschäftsmäßigen TK-Dienstleistungen (Zugangsprovider) unter Verweis auf die §§ 95 bis 111 TKG zur Auskunft an die Strafverfolgungsbehörden im Hinblick auf die Daten, die sie zu Zwecken ihres kaufmännischen und technischen Betriebes benötigen (siehe unten links). Dazu gehören die Bestandsdaten ( § 95 TKG) und die nach Maßgabe von § 96 Abs. 1 S. 1 TKG begrenzten Verkehrsdaten.
Diese Vorschriften gelten fort und wurden vom BVerfG nicht aufgehoben. |
Die Vorratsdatenspeicherung wurde von § 113a TKG angeordnet. Der darin enthaltene Datenkatalog war erheblich umfangreicher. Die Speicherdauer betrug 6 Monate, die Daten mussten binnen eines weiteren Monats gelöscht werden. § 113b TKG enthielt die Ermächtigung, dass die Zugangsprovider die Vorratsdaten an die Strafverfolgungsbehörden herausgeben durften. Beide Vorschriften sind vom BVerfG als verfassungswidrig und nichtig erklärt worden. Die einschlägige strafverfahrensrechtliche Eingriffsnorm ist § 100g StPO. Sie ist nach der Entscheidung des BVerfG insoweit nichtig, wie sie den Zugriff auf Vorratsdaten gemäß § 113a TKG zuließ. Im übrigen gilt die Vorschrift fort und das gilt vor allem auch wegen der (inhaltlich begrenzten) Verkehrsdaten, die von § 96 Abs. 1 S. 1 TKG definiert werden.
Daraus
folgt zunächst, dass künftig keine Vorratsdaten gemäß
§ 113a TKG vorgehalten und schon deshalb nicht nach
§ 100g StPO im Strafverfahren beigezogen werden können. |
||||||||||||||
Wirkung der Nichtigkeit | ||||||||||||||||
|
Die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist nach § 359 StPO vor allem dann zulässig, wenn sich die Tatsachengrundlagen des Strafurteils im Nachhinein als nachweislich falsch erwiesen haben. Eine Besonderheit stellt § 359 Nr. 6 StPO dar, der eine Wiederaufnahme auf der Grundlage einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zulässt. In ähnlicher Weise lässt auch § 79 Abs. 1 BVerfGG die Wiederaufnahme zu, soweit die Verurteilung auf dem nichtigen Gesetz beruht. Das ist der Fall, wenn das Gericht bei richtiger Rechtsanwendung möglicherweise anders (als im angefochtenen Urteil geschehen) entschieden hätte. § 100g StPO ist aber kein materielles Strafgesetz, dessen Tatbestand mit Strafe droht, sondern eine Regel des Strafverfahrensrechts. In diesem Zusammenhang ist in der Literatur die Ansicht verbreitet, dass die Nichtigkeit nicht auf Verfahrensregeln mit Bezug auf die Vergangenheit wirkt. Die viel behauptete Klarheit lässt die Rechtsprechung vermissen.
Nach einhelliger Meinung stellt die Eröffnung des
Wiederaufnahmeverfahrens gemäß
§ 79 Abs. 1 BVerfGG die Ausnahme dar
(5). Die Regel bildet danach
§ 79 Abs. 2 BVerfGG, der rechtskräftige Entscheidungen
bestandskräftig erhält und nur ihre Vollstreckung hemmt. |
Wenn seine Nichtigkeit festgestellt wird, dann ist das Gesetz von vornherein verfassungsrechtlich verboten gewesen und wird es rückwirkend aufgehoben (ex tunc). Während seiner Geltung ist es jedoch - möglicherweise sogar lange Jahre - auf eine Vielzahl von Sachverhalten angewendet worden. Die konsequente Rückwirkung würde die Bestandskraft aller auf der Gesetzesanwendung beruhender Entscheidungen in Frage stellen und damit eine unverantwortliche Rechtsunsicherheit verursachen. Dieses Dilemma zwischen Verfassungswidrigkeit einerseits und Gewährung von Rechtssicherheit andererseits beschäftigt die Rechtswissenschaft seit Jahrzehnten (6). Insoweit hat das BVerfG auch prozessuale Verfahren der Wiederaufnahme unterworfen (7), wenn sie die Gerichtsverfassung regeln. Das bedeutet, dass Verfahrensregeln unwirksam werden, die den Gerichtsweg und besonders den gesetzlichen Richter betreffen ( Art. 101 S.2 GG), nicht aber das Verfahrensrecht, das der berufene Richter anwendet. Die von § 79 Abs. 1 BVerfGG eröffnete Wiederaufnahme stellt, wie gesagt, die Ausnahme dar und § 79 Abs. 2 BVerfGG den Regelfall (8). Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich davon, dass niemand gezwungen sein soll, den Makel einer Strafe auf sich lasten zu lassen, die auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz beruht (28). Der Begriff Strafgesetz bezeichnet aber ausschließlich materielle Strafnormen, nicht auch formelle. |
||||||||||||||
keine rückwirkende Nichtigkeit | wirksame unechte Rückwirkung | |||||||||||||||
|
Anordnungen gemäß § 100g StPO richten sich gegen den Zugangsprovider. Er wird durch sie zur Herausgabe der bei ihm gespeicherten Verkehrsdaten verpflichtet. Sobald der Zugangsprovider die herausgegeben hat, ist die Vollstreckung im Sinne von § 100g StPO abgeschlossen. Keine Vollstreckung in diesem Sinne ist der nachträgliche Rechtsschutz, den § 101 Abs. 7 StPO bietet. Er ist kein Rechtsmittel, der gegen den Vollzug einer Eingriffsentscheidung gerichtet ist, sondern ausdrücklich ( § 101 Abs. 4 S. 2 StPO) eine nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit und des Vollzuges des Eingriffs, nachdem er beendet ist (9). Die gerichtliche Entscheidung dient vor allem der Nachholung des rechtlichen Gehörs. Die gerichtliche Entscheidung ist sozusagen der Ersatz der sonst gebotenen Anhörung, die nach § 33 Abs. 4 StPO unterbleiben darf, wenn durch sie der Untersuchungszweck gefährdet würde.
Der Maßstab
für die Entscheidung nach
§
101 StPO ist das zum Zeitpunkt der Entscheidung und Vollstreckung
geltende Recht
(10).
Für die Zeit seit dem 11.03.2008 gilt deshalb der Maßstab, den das
BVerfG durch einstweilige Anordnungen gestaltet hat. |
Wegen schwebender Entscheidungen ist es dem Gesetzgeber erlaubt, vorläufige materielle und Verfahrensregeln zu treffen. In engen Grenzen darf er dazu auch rückwirkend in Rechtsverhältnisse eingreifen ("echte Rückwirkung"). Die "unechte Rückwirkung", die sich auf Verfahrensregeln beschränkt, ist jedoch nach Maßgabe der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes grundsätzlich zulässig [siehe Kasten links unten, (15)].
Nichts
anderes hat das BVerfG mit seinen einstweiligen Anordnungen getan. Nach
den Grundsätzen der unechten Rückwirkung bleiben die zwischenzeitlichen
Anordnungen gemäß
§ 100g StPO in Bezug auf Straftaten gemäß
§ 100a Abs. 2 StPO wirksam und wegen ihrer Folgen vollziehbar. |
||||||||||||||
Verwertung von Vorratsdaten | Verwertungsverbote | |||||||||||||||
|
Dem stehen auch nicht die inhaltlichen Schranken entgegen, die das BVerfG jetzt in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung gesetzt hat. Seit dem 11.03.2008 durften nur die Vorratsdaten an die Strafverfolgungsbehörden herausgegeben werden, die die Fälle einer Katalogstraftat gemäß § 100a Abs. 2 StPO und damit die besonders schwere Kriminalität betrafen (16). Wegen dieser Kriminalitätsformen betrachtet das BVerfG noch immer die Verwertung von Vorratsdaten als zulässig (17). Somit stehen weder Gründe des Verfahrensrechts noch des sachlichen Verfassungsrechts der Verwertung der in der Zwischenzeit erhobenen Vorratsdaten entgegen. Für sie ist kein Verwertungsverbot
eingetreten! |
Von Verfassungs wegen gebotene Verwertungsverbote haben immer einen Ausnahmecharakter (siehe Kasten links) und greifen nur dann, wenn bei einer Gesamtschau das Rechtsstaatsprinzip durchbrochen wurde. Dadurch, dass das BVerfG im Rahmen seiner
einstweiligen Anordnungen den Anwendungsbereich des
§ 100g StPO auf
Katalogstraftaten beschränkt hat, steht in diesen Fällen der
Verwertung nichts entgegen. |
||||||||||||||
Schwellengleichheit | Spurenansatz, Ergreifung | |||||||||||||||
|
Bis zum 02.03.2010 galten für sie die §§ 161 Abs. 2 (Import) und 477 Abs. 2 S. 2 StPO (Export) nach Maßgabe der einstweiligen Anordnungen des BVerfG. Mit anderen Worten: Verwertbare Vorratsdaten konnten bis dahin auch in andere Verfahren eingebracht und als Vollbeweis verwertet werden, wenn auch dort (wegen einer Katalogstraftat) ihre Erhebung zulässig gewesen ist. Der entscheidende Zeitpunkt, auf den dabei abzustellen ist, ist der des erneuten Grundrechtseingriffs, also dann, sobald über die Verwertung der Vorratsdaten entschieden wurde (20).
Seit dem
02.03.2010 ist
§ 100g StPO insoweit nichtig, wie er den strafverfahrensrechtlichen
Zugriff auf Vorratsdaten zuließ. Seither ist ihre Erhebung in
Strafverfahren verboten und fehlt es an einer Norm, mit der sich die
Schwellengleichheit begründen ließe. |
Etwas anderes gilt für den vom BVerfG anerkannten Spurenansatz (21). Danach können auch nicht schwellengleiche Erkenntnisse zur Begründung von Eingriffsmaßnahmen herangezogen werden. Bei der gerichtlichen Urteilsbildung bleiben sie jedoch unverwertbar, nicht aber die neuen Erkenntnisse, die aufgrund anderer Ermittlungsmaßnahmen gewonnen wurden. Daraus folgt, dass die wirksam erhobenen Vorratsdaten im Rahmen des Spurenansatzes auch als Zufallsfunde mit der Beschränkung verwertet werden dürfen, dass sie nur die Begründung neuer Ermittlungsmaßnahmen erlauben. In der folgenden gerichtlichen Verhandlung besteht ein Verwertungsverbot als Vollbeweis.
Ebenfalls erkennt das BVerfG die Verwertung nicht schwellengleicher Erkenntnisse zur
Aufenthaltsermittlung und Ergreifung von Tätern an
(22). |
||||||||||||||
Fazit | ||||||||||||||||
|
Die Verwertung der seit dem 11.03.2008 erhobenen Vorratsdaten ist zulässig. Sie konnten nur nach Maßgabe der einstweiligen Anordnungen des BVerfG erhoben werden und waren auf die Fälle der besonders schweren Kriminalität nach dem Straftatenkatalog des § 100a Abs. 2 StPO beschränkt. Sie trifft keine rückwirkende Nichtigkeit und kein Verwertungsverbot. Diese Vorratsdaten dürfen auch dann verwertet werden, wenn sich seit ihrer Erhebung der rechtliche Gesichtspunkt geändert hat (23) und wenn sie im Rahmen des Spurenansatzes oder zur Ergreifung genutzt werden sollen. Auf der Grundlage des
§ 100g StPO können jetzt nur noch
Verkehrsdaten im Sinne von
§ 96 Abs. 1 S. 1 TKG erhoben werden. Das sind solche, die
von den Zugangsprovidern aus kaufmännischen oder technischen Gründen
gespeichert werden müssen. Sie stehen höchstens für die Dauer von 3
Monaten zur Verfügung. |
Neben dem Zugriff auf Vorratsdaten fehlt der Strafverfolgung auch das Instrument der Onlinedurchsuchung (24). Der Gesetzgeber lässt nicht erwarten, dass er zügig die Vorgaben des BVerfG in beiden Fällen umsetzen wird (25), obwohl der politische Druck stark zu werden beginnt. Den größten Druck wird die Urheber-Lobby ausüben. Sie ist in aller Regel bei der Durchsetzung ihrer gewerblichen Schutzrechte auf Auskünfte über dynamische IP-Adressen angewiesen, die ihrerseits nur anhand von Verkehrsdaten aufgelöst werden können. Solche Nutzungen im Einzelfall hat das BVerfG unabhängig von der Schwere der Tat oder der Beeinträchtigung als zulässig angesehen. Weiterer Druck wird seitens der EU kommen, zumal sie die Vorgaben für das gescheiterte Gesetz gegeben hat. Die
jubelnden Gewinner müssen sich vor Augen halten, dass die
Vorratsdatenspeicherung nicht völlig unzulässig ist und auch die
Verwertung dieser Daten Berechtigung hat. Der Gesetzgeber ist in
Zugzwang und wird nicht ewig auf sich warten lassen können. |
||||||||||||||
Aktualisierung | ||||||||||||||||
|
||||||||||||||||
Zitate | ||||||||||||||||
|
|
|
||||||||||||||
Anmerkungen | ||||||||||||||||
(2) siehe auch StPO-Reform 2007 (3) Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (4)
Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hat dieselbe Folge wie die
der Nichtigkeit:
Die Norm darf ab sofort, d. h. vom Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts an, in dem (5) siehe Kasten links und Mitte (6) Eine besondere Tiefe hat der Aufsatz von Manfred Löwisch, Zu den Folgen der Nichtigkeitsfeststellung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, insbesondere für private Rechtsverhältnisse, Juristenzeitung 1961, S. 731 - 735. (7) siehe Kasten oben rechts (8) siehe Kasten oben Mitte (9) BGH, Beschluss vom 08.10.2008 - StB 12-15/08, Rn 7. (10) Schluss aus BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08, Rn 13, wonach das zum Zeitpunkt der Eingriffsmaßnahme geltende Recht zugrunde gelegt werden muss. (11) BVerfG, Beschluss vom 11.03.2008 - 1 BvR 256/08
(12)
Verwertung von Vorratsdaten nur wegen schwerer Kriminalität |
(14) (1) (15) BVerfG, Beschluss vom 19.10.1999 - 1 BvR 1996/97 (16)
Definition:
BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/97, 1084/99,
Rn 238, 241, 335; siehe auch
Klarstellung vom Bundesverfassungsgericht. (17) (1), Rn 228, 229. (18) BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009 - 2 BvR 2438/08, Rn 8 ff. (19) (18), Rn 7. (20) BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08, Rn 11, 13; siehe auch zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse. (21) BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, S. 64. (22) (21) (23) Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts (24) Online-Zugriff an der Quelle (25) Leutheusser-Schnarrenberger unter Druck, tagesschau.de 03.03.2010 (26) Vorratsdatenspeicherung: CDU-Politiker drängen auf schnelle Nachfolgeregelung, Heise online 06.03.2010 (26a)
Graßhof in Maunz, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Bethge, (27) BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 vR 1905/02, Rn 31. (28) ebenda (27), Rn 32
(29)
BVerfG, Beschluss vom 08.03.2006 - 2 BvR 486/05, Rn
93. |
|||||||||||||||
Cyberfahnder | ||||||||||||||||
© Dieter Kochheim, 11.03.2018 |